Archiv für den Monat: Juli 2016

Warum es zu Amokläufen kommt. Medien können solche Taten auslösen.

 Christian Weisflog    Neue Zürcher Zeitung
Amokläufer stammen oft aus geordneten Familien, sind extreme Egoisten und können via Medien auch durch islamistische Terrorakte inspiriert werden, sagt Britta Bannenberg im Interview. Die Kriminologin hat in Deutschland 75 Amokläufe untersucht.
 
Ego-Shooter-Spiele dienen potenziellen Tätern oft als Vorbereitung auf ihren Amoklauf. (Bild: Keystone)

Ego-Shooter-Spiele dienen potenziellen Tätern oft als Vorbereitung auf ihren Amoklauf.

Frau Bannenberg, der Attentäter von München wird allgemein als klassischer Amokläufer bezeichnet, sehen sie das auch so?

Ja, er ist Einzeltäter, beschäftigte sich mit früheren Amokläufen, spielte Ego-Shooter, war mit übermässig viel Munition unterwegs und beging am Ende einen Suizid. Das sind alles bekannte Muster.

Warum ist die übergrosse Menge an Munition typisch?

Der Täter kann die 300 Schuss Munition in seinem Rucksack niemals gebrauchen. Aber ein Amokläufer möchte sich selbst als den ultimativen Kämpfer darstellen, der auf martialische Weise auftritt und aus seiner Sicht in noch grossartigerer Weise zuschlägt als alle Täter zuvor.

Warum ist das diesen Personen so wichtig, noch brutaler zu sein als vorherige Amokläufer?

Dafür gibt es kein rationales Motiv. Die Täter sind meist sehr narzisstisch veranlagt, zum Teil auch paranoid. Sie sind Einzelgänger, haben keine Bindungen und empfinden keine Empathie für andere, sind egoistisch. Sie sind ständig gekränkt und interpretieren das Verhalten ihnen gegenüber als feindselig. Sie sind keine Mobbing-Opfer. Sie empfinden sich selbst als grossartig und anderen überlegen. Aus ihrer Sicht sind sie es nicht wert, sich mit den anderen abzugeben. Dabei sind sie nicht impulsiv, sie können ihren Ärger nicht zeigen und fressen alles in sich rein.

Und was geschieht dann?

Dann fragen sie sich: «Was kann ich tun?» Sie beginnen sich mit früheren Amokläufen zu beschäftigen. Lange Zeit reicht ihnen das und sie können sich damit hochhalten. Aber irgendwann muss es realer werden, sie beginnen Todeslisten zu schreiben und Ego-Shooter zu spielen. Dabei entscheiden sie sich gerne für Spiele, die frühere Amokläufer verwendet haben. Zum Beispiel jenes, das Eric Harris gespielt hatte, der gemeinsam mit einem Mitschüler 1999 an der Columbine High-School 13 Personen tötete.

Amokläufer denken sie seien die Tollsten und alle anderen Menschen hätten es nicht verdient, zu leben. Sie sind eigentlich Menschenfeinde.

Beim Studium früherer Amokläufe spüren die potenziellen Täter also Befriedigung, worin besteht die?

Sie empfinden ständige Demütigungen. Sie glauben deshalb, zur Rache berechtigt zu sein. Eine Zeit lang reicht ihnen der Gedanke: «Wenn ihr wüsstet, dass ich euch alle platt machen könnte. Wenn die wüssten, dass ich sie alle töten will.»

Sie waren an einer eben gerade abgeschlossenen Langzeitstudie beteiligt. Es fällt auf, dass es sich bei den Amokläufern fast ausschliesslich um Männer handelt. Warum?

Bei Gewalt ist es ohnehin so: Je schwerwiegender die Gewalttaten, desto eher werden sie von Männern verübt. Bei den Amoktätern ist das noch eindeutiger. Wir haben in den vergangenen drei Jahrzehnten 40 erwachsene Täter und 35 junge Täter unter 24 Jahren untersucht. Davon waren lediglich 2 Frauen und 3 Mädchen. Es handelt sich bei Amokläufen um eine besondere Demonstration der Männlichkeit. Der Täter zeigt sich als Kämpfer und Rächer im öffentlichen Raum. Wenn Frauen töten, dann in der Regel ihre Kinder, ihren Ehemann oder ihren Partner.

Die Tat in München geschah am fünften Jahrestag des Utöya-Massakers in Norwegen. Die Polizei vermutet eine Verbindung. Anders Breivik war allerdings ein Rechtsextremist, der Täter von München hat iranische Wurzeln. Wie soll das zusammenpassen?

Breivik ist kein blosser Rechtsextremist. Er ist auch ein Frauenhasser und entwickelte alle möglichen Feindbilder. Im Übrigen bewunderten frühere Einzeltäter oft Hitler und den Nationalsozialismus. Hitler war der grösste Verbrecher aller Zeiten. Amokläufer denken sie seien die Tollsten und alle anderen Menschen hätten es nicht verdient, zu leben. Sie sind eigentlich Menschenfeinde.

Britta Bannenberg ist Professorin für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Justus-Liebig-Universität in Giessen. (Bild: ZVG )

Britta Bannenberg ist Professorin für Kriminologie an der Universität in Giessen.

Erst kürzlich kam es auch in Würzburg und Nizza zu Gewaltexzessen, bei denen die Täter aber wohl islamistisch getrieben waren. Ist die zeitliche Nähe also nur ein Zufall?

Es kann durchaus eine gegenseitige Befruchtung geben. Ein Tatgeneigter kann durch die sehr hohe Medienaufmerk-samkeit der Terrorakte animiert werden, denn ein Amokläufer möchte ja möglichst viel Aufmerksamkeit erhalten. Er kann auch gewisse Muster kopieren, aber sich auch eigene Varianten ausdenken. Bisher sind Einzeltäter im eigenen Haushalt an die Waffen gelangt. München ist der erste Fall, in dem eine Waffe im Darknet bestellt worden war.

Trotz der Gefahr von Nachahmungseffekten, können die Medien diese Ereignisse doch nicht einfach ignorieren?

Die Medien müssen darüber berichten, aber sie sollten den Täter nicht in den Mittelpunkt stellen, keine Bilder von ihm zeigen und ihn als Mobbingopfer darstellen. Denn Medien können die Tat solch gestörter Personen auslösen.

Der Amokläufer trug schwarze Kleidung – das ist auch die Farbe der Terrormiliz Islamischer Staat. Ein Zufall?

Viele Amokläufer haben Schwarz getragen. Es ist die Farbe des Todes. Die Täter wollen als Kämpfer wahrgenommen werden und machen sich viele Gedanken, wie sie rüberkommen. Es gibt aber auch solche, die bewusst auf eine auffällige Kleidung verzichten, damit ihr Plan nicht auffliegt.

Viele Eltern wollen den Gedanken, dass ihr Sohn zum Täter werden könnte, nicht wahrhaben.

Der Täter in München spielte Ego-Shooter-Spiele. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière sieht solche Gewaltspiele als eine Ursache für die gesellschaftliche Verrohung. Sehen sie das auch so?

Ego-Shooter sind nicht die Ursache. Die Idee für einen Amoklauf kommt nicht beim Spielen. Es ist umgekehrt. Bereits Tatgeneigte versuchen sich so in ihre Fantasie zu versetzen. Breivik benutzte die Spiele, um sich daran zu gewöhnen, wenn Blut fliesst und Körper zerfetzt werden. Die Amokläufer versuchen sich zu stählen und vorzubereiten. Es gab Täter, die den Gebäudeplan ihrer Schule in ein Spiel hineinkopiert haben, um für den Ernstfall zu üben. Intensives Spielen wird so zu einem Teil der Vorbereitung.

Aber müsste man dann solche Spiele nicht verbieten?

Ich denke, Verbote werden nichts bringen. Die Spielindustrie ist schon zu mächtig und die Eltern haben längst kapituliert. Man muss umgekehrt fragen: Warum intervenieren die Eltern nicht, wenn ihr Kind sieben Stunden am Tag im Zimmer sitzt und rumballert. In Prozessen kommt gerne heraus, dass die Schwester bereits viel wusste über die Gewaltphantasien des Bruders. Aber viele Eltern wollen den Gedanken, dass ihr Sohn zum Täter werden könnte, nicht wahrhaben.

Kommen denn solche Amokläufer nicht oft aus konfliktreichen, zerrütteten Familien?

Nein, im Gegenteil. Es sind oft wohlhabende, normale Familien aus der Mittelschicht. Es findet eine Konfliktvermeidung statt. Es wird nicht gestritten, man verschweigt viel, spricht Probleme nicht an und lebt neben einander her. Entscheidend ist aber nicht die Erziehung, sondern die Persönlichkeit des Amokläufers. Die Geschwister von Tätern sind oft ganz anders, sie streiten mit ihren Eltern und tragen die Konflikte aus.

NB. von  Prof. Dr. Hans Högl:  Es ist klar, nicht jeder, der stundenlang in Computer-Gewaltspielen aufgeht, wird ein Täter. Aber selbst wenn diese Medien in statistisch minimalen Fällen diese mörderischen Aktionen  auslösen, sollte  diese Spielindustrie eingeschränkt werden. Warum haben nur Eltern Verantwortung und nicht auch die Spielindustrie?  Die Vereinbarung, über Selbstmorde in Medien n i c h t  zu berichten,  hatte zur Folge, dass die Selbstmordrate zurückging. Die Wissenschaft wagt zum Teil nicht, die mächtige Spielindustrie und  nicht die Verantwortung der Medien, die unglaublich viel Gewalt zeigt,  generell in die Pflicht zu nehmen.  Es gibt auch eine institutionelle Verantwortung und nicht nur eine für Individuen. Und es gibt Nachahmungseffekte.

VfGH-Urteil mit gefährlichen Konsequenzen ?

Annullierung des Wahlsieges von Van der Bellen ein historischer Unfall ?

Udo Bachmair

Die Debatte rund um die vom VfGH aufgehobene Präsidentschaftswahl geht weiter. Eine komplexe Causa, die differenzierender Argumentation bedarf. Einerseits sind Urteile der Höchstrichter unjuridisch ausgedrückt „sakrosankt“. Sie gelten, ob es einem passt oder nicht. Dennoch darf die Frage erlaubt sein, welche Konsequenzen eine Entscheidung nach sich zieht, die nicht auf Beweisen basiert , sondern auf bloßem Verdacht auf Manipulationen.

Verfassungsjuristen schätzen das Urteil des Höchstgerichts höcht unterschiedlich ein, auch in Leserbriefspalten und Zeitungskommentaren scheiden sich die Geister in diesem heiklen Fall. Die einen sprechen von einem „Sieg des Rechtsstaates“, andere wiederum von „Gefahr für die Demokratie“. Was zudem bleibt, ist der Eindruck, dass die Anfechtung der Stichwahl durch die FPÖ weniger dem Wahlverfahren gegolten hat, sondern dem Einspruch gegen ein unpassendes Wahlergebnis. Der VfGH missbraucht als parteipolitisches Instrument ?

„Aus der Geschichte und der Gegenwart lernen wir, dass am Beginn von totalitären Regimen, von Autokratien und Diktaturen fast immer Anfechtungen und Verleumdungen freier Wahlen standen und stehen. Und dazu wurden oft rechtsstaatliche Mittel benutzt. Die wahren Absichten werden später offenbar“, befindet etwa Ex-Burgtheaterdirektor Nikolaus Bachler in einem Gastkommentar für den KURIER.

Und im FALTER analysiert ORF-Korrespondent Raimund Löw :

„Die Annullierung einer fairen und freien Wahl durch die österreichischen Höchstrichter ist einzigartig. Es gibt international kein anderes Beispiel, dass eine demokratische Präsidentenwahl aus rein formalen Gründen außer Kraft gesetzt wurde. In einer politischen Extremsituation, in der die Verhältnisse in der gesamten westlichen Welt ins Rutschen geraten, ein verheerender Vorgang.

Die Richter haben argumentiert, dass auch die Möglichkeit einer Manipulation ausgeschlossen sein muss. Nicht einmal die FPÖ behauptet, dass es eine Fälschung tatsächlich gegeben hätte. Die einzigen, die den Wählerwillen manipulieren, indem sie die Wahl annullieren, sind die Richter selbst.

Die formaljuristischen Argumente, mit denen der VfGH den am 22.Mai 2016 zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen außer Kraft setzt, stehen in merkwürdigem Gegensatz zur politischen Sprengkraft der Entscheidung. In Europa brechen gerade die Dämme gegenüber einer nationalistischen Rechten, die ausgezogen ist, die liberale Demokratie zu zerstören.

Die Wahl Van der Bellens wurde weltweit beachtet, weil sie den Weg der FPÖ an die Staatsspitze blockierte. Diese Möglichkeit wird jetzt wieder hergestellt. Sollte der FPÖ-Kandidat Hofer im zweiten Anlauf erfolgreich sein, wird der Weg für H.C. Strache geebnet. In zukünftigen Geschichtsbüchern würde die Annullierung des Wahlsieges Van der Bellens dann wohl als historischer Unfall gewertet werden, herbeigeführt aus juristischem Purismus aber mit der objektiven Wirkung eines Coups, selbst wenn von den Richtern etwas ganz anderes intendiert war.

Weil die Kuverts in österreichischen Gemeinden von den falschen Personen aufgeschlitzt wurden, bleibt die Gefahr einer weiteren politischen Destabilisierung Europas vorläufig bestehen. Eine Unverhältnismäßigkeit, die die Höchstrichter ignoriert haben.“

www.loew.at

 

„Der Islam und wir – nichts als Ärger ?“

Angriffe gegen Muslimin als Spiegelbild des Klimas in unserem Land ?

Udo Bachmair

„Werft sie aus der Sendung, am besten überhaupt aus dem Land…“ So und ähnlich die Facebook-Reaktionen auf die Teilnahme einer kopftuchtragenden jungen Muslimin in der jüngsten Servus-TV-Diskussion. Schon der Sendungstitel scheint die beabsichtigte Tendenz der Sendung gleichsam vorgegeben zu haben: „Der Islam und wir – nichts als Ärger ?“ Der offenkundige Versuch von Moderator Michael Fleischhacker, die Debatte auf antiislamischen Kurs zu bringen, ist allerdings nur teilweise gelungen..

Das Highlight der Runde im Hangar 7, Shirin Ebadi – als erste muslimische Frau Trägerin des Friedensnobelpreises – sorgte für eine wohltuend differenzierte Sicht der Thematik. Ebenso der ebenfalls eingeladene evangelische Bischof Michael Bünker. Diesen außerordentlich kompetenten Diskussionsteilnehmer ließ der Moderator allerdings zu wenig zu Wort kommen.

Freie Bahn hingegen hatte der islamophobe Rechtsaußen-Expolitiker Ewald Stadler. Er hat den ihm überlassenen Spielraum gut zu nutzen gewusst, gleichsam als Co-Moderator.. Opfer von Stadlers Angriffen war die erwähnte junge Muslimin Dudu Kücükgöl. Sie sieht sich nun im Internet mit einer Welle an Schmähungen und Hass konfrontiert. Ein weiteres Zeichen für weiter schwindende Medienkultur ..

Zur Islam-Diskussion im Hangar 7 die folgende uns soeben übermittelte Nachlese Dudu Kücükgöls :

„Die Zusammenarbeit mit ServusTV war wunderbar, die MitarbeiterInnen wunderbar, aber ich weiß wirklich nicht, ob ich mir so ein Sendungskonzept jemals wieder wirklich geben werde.

Ich bin Sendungen leid, in denen es von einer Seite nur um Polemik geht. Wer bitte kommt auf die Idee, dass zum Thema Zusammenleben ein rechtskräftig wegen Nötigung verurteilter Rechtspopulist und christlicher Fanatiker der beste Diskussionspartner ist?

Die Moderation empfand ich mir gegenüber als respektlos und mit dem Kommentar „Sie können nicht immer Probleme weglächeln“ grob sexistisch. Mit diesem Kommentar habe ich Herrn Fleischhacker direkt in der Sendung konfrontiert, aber es auch nach der Sendung deutlich als Feedback gegeben. Hier sieht man leider, was eine parteiische Moderation ausmachen kann: Obwohl in der Sendung Shirin Ebadi, Bischof Bünker und ich oft einer Meinung waren, der Herr Fastenbauer zwar wenige, aber auch gute Kommentare eingebracht hat, war die destruktive Stadler-Fleischhacker-Achse so stark, dass stellenweise keine sinnvolle Diskussion möglich war.

Mir rauben diese kontorversellen Diskussionen mit reißerischen Titeln, Videos und Diskussionen zu viel Energie und Kraft. In Zukunft ladet mich bitte zu vernünftigen Sendungen ein oder lasst es. Ich mache das nicht mehr mit. Ich konzentriere mich lieber auf die Arbeit in der Community mit jungen Menschen und die Arbeit mit Menschen, die an Zusammenarbeit interessiert sind und diese gibts zuhauf.

Danke allen lieben Menschen, die mir über FB, Twitter, SMS, Whatsapp nette Nachrichten und aufmunternde Worte geschickt haben und sich tagtäglich trotz dieser Stimmung unermüdlich für ein friedliches Miteinander einsetzen!“

 

 

Hintergründe zum Film „Caracas – Eine Liebe“

Interview mit Luis Cordero. Er ist ein NGO – Pressesprecher in Wien und Experte für Entwicklungs-Kooperation. Er stammt aus Guatemala.

Im Kern handelt der mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnete Film von der Vereinsamung des Menschen in einer zunehmend unübersichtlichen Gesellschaft (Wiener Zeitung). Der Venezolaner Lorenzo Vigas erzählt im Film die Geschichte eines älteren, gut situierten Mannes, der seine zwischenmenschlichen Berührungsängste an jungen Männern vom Straßenstrich zu kurieren sucht. Die Hauptfigur Armando hat ein Problem mit menschlicher Nähe, und das ist für Latinos überraschend.

 Medienkultur: Wer diesen Film sieht, ist perplex über die Brutalität – vor allem unter jungen Leuten und den Banden Jugendlicher. Es ist ein Ausbruch an Gewalt.

Luis Cordero: Ja, das ist richtig und realistisch. Die Gewalt kommt völlig unvermutet, und Menschen werden ermordet.

Medienkultur: Aber ist dies nicht charakteristisch für viele Großstädte Lateinamerikas?

Cordero: Aber nicht in dieser brutalen Variante. In vielen Großstädten Lateinamerikas gibt es Diebstähle usw. Aber in Caracas ist dies ganz anders. Besuchern dieses Landes wird dringend geraten, nach 17 Uhr ihr Hotel nicht mehr zu verlassen. Sonst wird es absolut gefährlich. Brutale Gewalt ist allgegenwärtig.

Medienkultur: Was ist der Grund für diese spezielle Situation?

Cordero: Die menschliche Lage, die Versorgung, hat sich in den letzten Jahren in Venezuela, eigentlich einem reichen Land, dramatisch verschlechtert.

Medienkultur: Woran liegt das? Es gab doch Chavez, der viel für das Wohl des Volkes getan hat.

Cordero: Das ist richtig. Am Anfang der Regierung von Chavez wurden Unternehmer enteignet, und zu Beginn hat ja die Verteilung funktioniert. Aber dann unterließ es die Regierung in die Betriebe zu investieren, und es wurden unfähige Leute als Manager bestellt. Auch Parteifreunde. Auf die Dauer konnte das nicht gut gehen. Und so ist die Versorgung zusammen gebrochen, und der Ölpreis ist sehr niedrig, und der Staat hat kein Geld.

Medienkultur: Sehr häufig wird argumentiert, das Durcheinander wäre von außen, von den USA, angezettelt.

Cordero: Nein, das stimmt heute nicht mehr, das hat in Venezuela interne Ursachen. Und es gibt überall in Lateinamerika Korruption, und zehn, zwölf Familien beherrschen alles.

Medienkultur: Im Film kommt mehrmals vor, dass ein junger Mann den Wunsch äußert, den Vater umzubringen. Woran liegt das?

Cordero: Ich interpretiere dies so – Hugo Chavez verstand und präsentierte sich als Vater aller Venezolaner. Und viele setzten große Hoffnungen auf ihn. Und er genießt noch immer großes Ansehen. Aber es gibt auch eine riesige Enttäuschung, so unter jungen Leuten, die sich an diesem Vater rächen, jetzt unbewusst rächen, weil sie von diesem politischen Vaterbild enttäuscht sind.

In Lateinamerika sind oft die Väter absent, arbeiten monatelang in der Fremde, wo sie einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen. Es ist die Mutter, welche die Kinder aufzieht.

Wie ich Paris kürzlich erlebte

Hans H ö g l

„Wer fährt denn jetzt nach Paris!“ – eine Warnung an mich – wo sich Grauslichstes ereignete. Ich aber hoffte auf leere Museen und wollte vor den sechs Tagen in Paris endlich die Kathedrale von Chartres kennen lernen. In Paris angekommen, fuhr ich per Metro zur Gare Montparnasse und dann per Bahn in das anmutige, winkelige Städtchen Chartres. Mit einstündiger Bahnfahrt durchquere ich fruchtbares Land,   eine Kornkammer um Paris. Über das wunderbare Blau in den Glasfenstern der ehrwürdigen, frühgotischen Kathedrale werde ich mich nicht länger ausbreiten, wohl aber vom nächtlich-grandiosen Zauber des Farbenspiels an der Stirnseite des Domes. Dies Wunder an Bauwerk   mit zwei unterschiedlichen Türmen an der Vorderseite planten die Revolutionäre von 1789 zu zerstören. Sie diskutieren jahrelang über das Wie, bis sich die Revolution erschöpfte. Ein Glück für die Nachfahren. Prägte nicht die revolutionäre Madame Roland, bevor sie am Schafott starb, das berühmte Wort: „Freiheit welche Verbrechen werden in deinem Namen begangen.“

Kurzmeldungen mit dem einseitigen Blick auf blutige Brennpunkte verbreiten in uns ein diffuses Gefühl allgegenwärtiger Gefahr. Die telefonische Frage meiner Frau: „Bist Du auf die Demos in Paris gestoßen?!“ Nichts davon. In dieser riesigen Metropole ereignet sich Vieles beiläufig. Die Polizei ist zwar da und dort präsent. Taschen werden selbst beim Eingang vor kleinen Museen kontrolliert. Nicht einmal die Uni-Nanterre kann ich betreten. Wie es der Exekutive gelang, die Massen vor den Fußballstadien zu kontrollieren, ist erstaunlich. Kein Lobeswort davon in Medien.

Das Leben in Paris nimmt seinen gewöhnlichen Verlauf, angeregtes Plaudern vor Bistros, keine Spur von Angst. Und am frühen Morgen nähern sich Autokolonnen den Arbeitsplätzen. Und der Beobachter entdeckt das angestrengte, gehetzte Alltagsgesicht. Paris ist vielgesichtig, Frauen zelebrieren ihre Individualität in der Bekleidung. Paris ist Ort der Skandale wie damals 1896, wo erstmals in der „Roten Mühle“ (Moulin Rouge) eine gänzlich unbekleidete Dame auf der Bühne erschien. Und kürzlich zeigte ausgerechnet das Weltblatt „Le Monde“ bildhaft die längste Manneszier. Ein Futter für Medien und deren Nutzer.

Ich suche den Ort der Demos am riesigen Place de la République auf. Bisher sammelte sich der Massenprotest zu Füßen der hoch aufragenden Statue der Revolutionsbraut- Marianne. Es waren in den Nächten Zig-tausende. Ein Herr in Sakko und Krawatte, ein Prof erklärte mir   in einer temperamentvollen Tirade den Anlass für die Demo: Er sieht sie im Arbeitsgesetz. Sie hebt die branchenweit geltenden Arbeitsregeln auf und ersetzt sie mit betrieblichen Einzelvereinbarungen. „Das macht die Leute arm“.

Die großen Massen sind nicht mehr präsent. Schmierereien am Sockel der Statue, papiernere Blumensträuße erinnern an die Opfer von Charlie Hebdo. Den Protestlern fehlt es an Organisation. Diffuse Unzufriedenheit trieb sie vor Wochen auf die Plätze, vor allem junge Leute. Davon blieb ein Vielerlei an Grüppchen übrig, die lose zerstreut miteinander reden. Drei Männer mit nordafrikanischem Gehabe suchen mit Lautsprechern die Aufmerksamkeit. Vergeblich. Niemand beachtet sie. Es ist wie bei unseren NGOs: Jede folgt nur Eigeninteressen. Es ist eine Art Gruppen -„Tanz um das goldene Selbst“ (Kurt Remele).

Ich war in Paris in erster Linie ein Reisender. Paris bietet Neuland: Einer Kollegin danke ich für den Tipp: das Musée des Arts-Premiers- Quai Branly. Hier in der Nähe des Eiffelturms findet der ethnologisch Interessierte faszinierende Einblicke in die Alltags- und mystische Welt der Menschen auf den pazifischen Inseln, er begegnet indigener Kunst aus Australien und Neuguinea und anderen Regionen. Die Zahl der Besucher ist bescheiden. Das Museum verdiente mehr Aufmerksamkeit – ebenso wie La Musée de l` Homme. Dies zeigt anschaulich die menschliche Evolution bis hin zur „Mondialisation“.

In Paris – Laizismus und Kirche. Eine Reportage

Hans H ö g l

„Mit Geld lässt sich in Paris alles kaufen“, schrieb Balzac mit scharfem Blick auf seine Mitbürger. Auch die Katholische Kirche ließ sich vom Ancien Régime „fördern“: Es war nett und schön für den Klerus, keine Steuern zu entrichten. Und die Kirche lohnte es dem König mit dem Segen von Gottes Gnaden. Darum rächten sich um 1789 die Revolutionäre an der Église. Der französische Laizismus entstand aus einem Kampf gegen die katholische Kirche als Macht. Und 1882 wurden die laizistischen Schulgesetze eingeführt.

Reiseberichte sind bezahlte Auftragswerke. Unserer nicht, und jene in Qualitätsblättern auch nicht. Eine erfahrene Journalistin sagte mir, wundert`s Dich: „Reisejournalismus gehört zu den korruptesten in der Branche.“ Mein sperriges Thema der Reportage: Laizität und Glaube.

Es ist spät am Vormittag, ich stehe am Platz vor Notre Dame und empfinde es als Geschenk, die geglückte Harmonie und die stimmigen Bauteile an der Stirnseite dieses Domes innerlich zu verkosten und bin der Letzte in der hundert Meter langen wartenden Menschentraube; aber dann geht es zügig voran. Am Haupttor kontrollieren drei bullige Schwarze Handtaschen und tasten den Körper nach Gefährlichem ab. Der Eintritt in den Dom ist frei. Anfangs bin ich verwundert, doch dann dämmert mir: Der französische Staat erhält die Kirchengebäude. Der Klerus lebt heute von Spenden der Gläubigen. Die Kirche ist arm und glaubwürdig. Napoleons nützte den zeitlosen Glanz und die religiöse Aura von Notre Dame und krönte sich hier selbst zum Kaiser.

Von der Metrostation Cité ist es zu Fuß nicht weit zum Centre Pompidou. Leider – Dienstag ist Ruhetag. Ich schlendere durch Nebengassen und erblicke die Außenwände der Kirche St. Martin. Der Staub der Zeit hat die Kirchenmauern geschwärzt. St. Martin wirkt beiseitegelassen, heruntergekommen und baufällig, aber der Innenraum ist echt passabel.

Etwas erstaunt mich – ein ziemlicher Auflauf von Leuten vor einem unscheinbaren Gebäude. Eine Menge Leute. Vor einer Schule, einer katholischen, dem Collège St. Jean Gabriel.  Kinder kommen vereinzelt aus dem Haus, einige mit Zeugnissen in der Hand. Rund jedes sechste französische Kind besucht in Frankreich eine katholische Privatschule, es sind 17 %, die Eltern zahlen Schulgeld, der Andrang ist übergroß.

Frankreich ist seit langem Missionsland. Die Säkularisierung hat breiteste Kreise erfasst. Das öffentliche Schulwesen ist laizistisch. Ohne Schulkreuze, ohne Gebet, ohne Religionsunterricht. Im Musée de l` Homme erstand ich die Broschüre „La République et ses Valeurs expliquées aux Enfants». Da wird Kindern erklärt, was ihre Rechte und Pflichten sind, wie sie gegen Gewalt und Rassismus auflehnen sollen, und es wird ihnen die Laizität der Schulen erklärt.

Da heißt es:   Religionen behaupten Dinge, was Wissenschaft nicht bewiesen hat, z.B. dass Gott existiert oder das Leben nach dem Tode. Die einen haben Glauben, die anderen sind „athée“ – so einfach ist das gestrickt. Auf eineinhalb kleinen Seiten geht`s im Stakkato-Schritt gleich über drei Religionen hinweg, den Islam, das Juden- und Christentum. Da Kinder so unbedarft über Weltreligionen die Schule verlassen, landen manche aus Ignoranz in den Fängen von Sekten, wie mir ein mir ein Franzose nachdenklich mitteilte. Die letzten Seiten der Broschüre handeln von Pressefreiheit. Ihre einzige Grenze: Sie dürfen nicht zu Hass und Mord aufzustacheln, aber Religionen können dem Spott ausgesetzt werden. Wie sich dies einprägte, zeigen Massenaufläufe bei Charlie Hebdo und im Slogan „Je suis Charlie“.

Schauplatzwechsel: Mit Mühe fand ich während der Euro ein brauchbares Quartier im Osten von Paris, bei der Porte Vincennes, genauer in St. Mandé. Die Wirtin des Bistro: „ In Paris kennt niemand unseren Stadtteil“. Der junge Mann in der Papeterie sagt mir: „Hier in St. Mandé ist es ruhig und die Wohnungen sind teuer. Es gibt keine Migranten.“ Ich sehe in einer Seitengasse die katholische Ortskirche. Äußerlich in gutem Zustand und mit hohem Turm. Samstag um 18 Uhr ist Abendmesse. Mir passt gerade der Zeitpunkt, um einen neugierigen Blick in sie zuwerfen. Ich erwartete –medial vorgefasst – in dem doch recht geräumigen Kirchenraum ein kleines Häufchen an Kirchgängern. So stellt man sich Frankreichs Kirche vor. Nichts dergleichen. Es hatten sich doch rund 150 Menschen und nicht wenige junge Paare eingefunden. Das hintere Viertel der Bänke war unbesetzt. Und mit inniger Verve wurden Lieder gesungen. Auch in St. Mandé entdecke ich im Pfarrblatt eine Reihe von katholischen Schulen verzeichnet. Die Jugend wird zur Pilgerfahrt nach Polen eingeladen. Dies als Impressionen von Paris.

BP-Wahl: VGH-Urteil „fragwürdig“ ?

Entscheidung der Höchstrichter nicht unumstritten

Udo Bachmair

Selbstverständlich ist eine Entscheidung der Höchstrichter zu akzeptieren. Unabhängig von politisch-taktischen Erwägungen. Der Verfassungsgerichtshof hat auch in der Causa der stattgegebenen Anfechtung der Bundespräsidentenwahl ausschließlich juridische Begründungen als Motiv für seine Entscheidung geltend gemacht. Das entspricht seinem gesetzlichen Auftrag und der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit.

Aber: Auch ein VGH agiert nicht im politik- und wertfreien Raum. So ist gerade auch im konkreten Fall die Frage legitim, ob die Verfassungsrichter realpolitische Konsequenzen einer solchen schwerwiegenden Entscheidung sorgfältig genug überlegt haben. Jedenfalls sind entgegen dem überwältigenden Lob für den VGH in Medien und Politik vereinzelt auch Bedenken und Kritik vernehmbar.

So hält der Autor Robert Misik im STANDARD die Entscheidung des VGH für „fragwürdig“ :

  1. hätte der Verfassungsgerichtshof auch anders entscheiden können.
  2. fällt er seine Urteile immer in einem politischen Kontext. Und selbstverständlich spielte für die Richter eine Rolle, dass sie der FPÖ nicht weiteren Anlass für ihre Kampagnen liefern wollten.
  3. Aber hat der Verfassungsgerichtshof das wirklich bis zum Ende gedacht?
  4. Hat er sich eigentlich überlegt, welche Verfassungskrise entstünde, wenn Norbert Hofer, dem ein zweiter Versuch geschenkt wurde, bei der Neuaustragung gewinnen würde?

Es steht zu befürchten, dass der Verfassungsgerichtshof das nicht überlegt hat. Im Grunde ist dieses Urteil selbst zirka so schlampig wie die Wahlorganisation in einem kleinen Dorf in der Provinz.

Er hat so entschieden, um sich ein Problem billig vom Hals zu schaffen: Er wollte der aggressiven FPÖ-Kampagne den Wind aus den Segeln nehmen, wollte sich den erwartbaren Angriffen von Strache, Hofer & Co nicht aussetzen.

Das ist verständlich und auch nicht unklug.

Aber er hat damit sofort ein anderes Problem geschaffen: Er hat 50,3 Prozent der Wähler gesagt: „Ich annulliere Eure Stimme. Eure Wahlentscheidung ist weniger wert als das aufgeregte Gefuchtel der FPÖ.“

Die Stimmen von 2.254.484 Wählerinnen und Wählern werfen wir einfach so weg.

That’s it, in the End. Er hat gesagt: Die Stimmen der Mehrheit der Wähler sind weniger wert als die Empörungsbewirtschaftung der Verliererpartei.

In einer Güterabwägung – wie stärke ich das Vertrauen der Verliererpartei? Und wie respektiere ich zugleich den Wählerwillen der Mehrheit? – hat er sich allein auf eine Seite gestellt.

Wie das mit dem Geist der demokratischen Verfassung in Einklang zu bringen ist, soll mir erst einmal ein Verfassungsrichter erklären. (Robert Misik, 3.7.2016)