Archiv für den Monat: Oktober 2019

Chips versus Demokratie

Für jene, die sich für digitale und neue Medien und Politik interessieren, ist der Roman des österreichischen Autors Thomas Sautner: Fremdes Land (Berlin 2012) ein Muss, und er ist spannend bis zur letzten Seite (Hans Högl)

In Sautners Roman setzt der technologisch hochentwickelte Staat die ihm zur Verfügung stehenden Informationen aus ausgeklügelten Überwachungsapparaten nicht nur ein, um nachträglich Gesetzesverstöße zu ahnden oder geheimdienstliches Wissen zu gewinnen, sondern er nutzt sie darüber hinaus, um deviantes Verhalten von vornherein zu verhindern. Diese präventive Strategie soll durch die Einpflanzung eines „Fit&Secure-Chips“ in die Schläfen der Bürger perfektioniert werden. So sollen nicht nur gefährliche Gedanken und abweichende Ideen rechtzeitig erkannt werden, sodass die betreffenden Personen aus dem Verkehr gezogen werden können, es soll sogar möglich sein, ihre Gedankengänge im Sinne des Staates positiv zu beeinflussen und sie zu vorbildlichen Staatsbürgern, Arbeitskräften und Konsumenten zu erziehen. Das Individuum soll auf diese Weise – zu seinem eigenen und zum Wohle der Allgemeinheit, und mit seinem Einverständnis – entmündigt werden.

„Ich habe den Traum, dass ich (…) es besser mache für das Land und die Menschen,“ erklärt Jack zu Beginn des Romans seiner skeptischen Schwester Gwendolyn, die – selbstverständlich ohne sein Wissen – im Widerstand aktiv ist. Doch tatsächlich, so muss er sich eingestehen, wollte er es keineswegs „für das Land und seine Menschen besser (…) machen. Sein Traum war: zu jener Handvoll Menschen gehören, die das Land regieren.“ Dieser unbedingte Wille zur Macht auch um den Preis der Selbstverleugnung und der Verabschiedung der eigenen Ideale zeichnet Jack aus und führt ihn letztlich zum Erfolg. Als Stabschef der neuen Regierung wähnt er sich an den Hebeln der Macht. In Wahrheit aber wird er zur Spielfigur in einem System, das den Einzelnen nur mehr in seiner Rolle als Konsumenten ernst nimmt. Die Politik ist längst abhängig von der Wirtschaft, eine Marionette der fünf großen Konzerne, die den Weltmarkt beherrschen. Um mit maximaler Effizienz und Kapazität arbeiten zu können, instrumentalisieren sie Regierung und Presse. Das Geld regiert die Welt.

Für die Rezension des Dystopie-Romanes übernahm ich Texte von Literaturhaus.net

Lob für den Kultur- und Informations-Spartensender ORF III

Hans Högl

Der TV-Sparten-Sender ORF III verdient, positiv hervorgehoben zu werden; denn er bietet eine Fülle, ja fast eine Überfülle von wertvollen Dokumentationen – so über Österreichs Kultur, Politik, Geschichte und über Europa. Manchmal würde man gern im Vorhinein in Printmedien ein wenig mehr erfahren, was in etwa der Inhalt der Filme und Reportagen ist.

Ich sah vor meiner Burgundreise den Film über Kaiser Maximilian und über seine Heirat mit Maria von Burgund.Der Geschichtsunterricht wäre wohl überfordert, abgesehen von der europäischen Bedeutung dieser Heirat – Näheres über die politischen Hintergründe dieser Vermählung zu vermitteln. Der Film veranschaulichte, welche Spannungen diese Heirat mit den Stadtherren in den Niederlanden auslöste und verwies auf die diplomatische Verwicklungen und führte zu einem Krieg mit Frankreich, das ebenso den Burgund für sich beanspruchte. Für mich blieb vorerst unbeantwortet, ob und inwiefern der Spielfilm auch den historischen Tatsachen entsprach. Das wäre vielleicht als Vor- oder Nachwort wünschenswert.

Am Samstag, den 12. Oktober 2019 Nachmittag, war die oberösterreichische Region Mühlviertel im Blick. Diese gilt wie das niederösterreichische Waldviertel als wirtschaftliche Randzone, angrenzend an Böhmen. Die ORF III Sendung brachte mutmachende wirtschaftliche Initiativen aus dieser durch Granit geprägten Landschaft – über Biolandwirtschaft, Hopfenanbau, Leinenweberei….Er zeigte, wie Menschen durch Kreativität selbst in Regionen mit wenig Industrie ihr Überleben sichern. Das war konstruktiver Journalismus im besten Sinne.

Ein Hinweise für unsere deutschen Leser: Das Mühlviertel ist zumindest geologisch dem Bayerischen Wald und dem niederösterreichischen Waldviertel ähnlich. Die Bezeichnung Waldviertel ist insofern irreführend, als es neben Wäldern auch Feldwirtschaft und Wiesen gibt.

Zivilgesellschaft (NGOs) unter Druck

Hans Högl. Originalbericht

Wien, 9. Oktober. Im Rahmen der „Gesellschaft für politische Bildung“ referierte Gudrun Rabussay-Schwald von Amnesty International (= AI) zum Thema „Zivilgesellschaft unter Druck- wieviel Spielraum bleibt uns noch?“ Ort: Bezirksmuseum Hietzing Wien 13.

Wie gehen Organisationen mit steigendem Druck und Diskriminierung („NGO-Wahnsinn…) um)? Die Referentin sieht seit 2016 weltweit einen sich verengenden Spielraum. Das EU-Parlament nennt dies „Shrinking Space“. Doch die Europäische Menschenrechtskonvention ermöglicht Verstöße gegen Menschenrechte einzuklagen. In letzter Zeit mache sich ein „Chilling Effekt“ bemerkbar, also eine Abkühlung von Engagement. Menschen sind bedroht in ihrer Sicherheit, es gibt Morde, Folter, Missbrauch, Verleumdung, Diskriminierung, Landraub. 2013 wehrte sich Edgar Snowden gegen die Massenüberwachung. Die Referentin führte das Profiling in China an, die geplante Überwachung des riesigen Volkes in einem 1.000 Punktesystem, wobei auch kleine Übertretungen mit Personen (Gesichts)-Erkennung protokolliert werden.

AI hält fast jeden Schultag in Österreich einen Vortrag. Es kommt vor, dass diese abgesagt werden. Es ergibt sich eine Relation von rund 200 gehaltenen Vorträgen zu fünf abgelehnten. Aber über solch` abglehnte spreche man eben…

Für AI sind Verstöße gegen Menschenrechte im Blick: solche gegen Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Schutz des Eigentums und auf Privatheit, Bewegungsfreiheit, Recht auf Arbeit…
Im Publikumsgespräch wurde auf Menschen-Pflichten hingewiesen. Das Asylrecht ist universell, doch manche Rechte gelten kontextuell. Bewegungsfreiheit meint Freiheit, sich innerhalb e i n e s Staates niederzulassen, also nicht weltweite Niederlassungsfreiheit.Doch die europäischen Bürger haben die Freiheit, innerhalb der EU arbeiten und leben zu dürfen. Analog kann im Sinne der Menschenrechte nicht jeder Mensch Wohnung und Arbeit konkret einfordern. Hintergrund der Frage war die hohe Arbeitslosigkeit Jugendlicher in Italien und Spanien.

Großes Lob für die Sendung über den Zölibat im ORF

Hans und Eveline Högl

Die Sendung „kreuz und quer“ (ORF 2) griff gestern das Thema „Zölibat“ in der katholischen Kirche auf. Dem Team der Religionsabteilung ist außerordentlich zu gratulieren für die informative und faire und kritische Gestaltung.

Zum einen erläuterte die Sendung den Sinn des Zölibats als Ganzhingabe durch eine Ordensschwester und durch einen Priester und auch die differenzierte Praxis in der Ostkirche. Sie korrigierte auch das gängige Vorurteil, als wäre die Zölibatsregelung unumstößlich und zeigte aus dem Amt geschiedene und glücklich verheiratete Priester. Und dies alles mit Empathie.

Auch die Affäre des bekannten „Pfarrer Jantsch“ aus der Hinterbrühl wurde ungeschönt präsentiert und doch mit Anteilnahme. Es wurde deutlich, wie paradox die Lebenspraxis von einem Priester sein kann, ganz anders als vom Amt in der Katholischen Kirche vorgesehen und im Widerspruch zu Sexual- und Ehenormen. Eklatant Maskenhaftes und Verwirrendes kam zum Vorschein, so in der inszenierten Gewandtheit der Geliebten des Pfarrers, einer Ehefrau. Wichtig ist, dass diese Sendung von einem ORF-Team gestaltet wird – und zwar unabhängig vom kirchlichen Amt.

Dreiste Interview-Fälschungen für die „Süddeutsche“

Lange vor dem „Spiegel“-Fälschungsskandal durch Relotius gab es gravierende Kritik am „Spiegel“ und am Magazin der „Süddeutschen“. Die Totalkritik der AfD an den Medien soll nicht hindern, partiell begründete Medienkritik zu üben – auch nicht an öffentlich-rechtlichen Sendern. Der folgende Beitrag „Journalisten sind keine Künstler“ wurde bereits am 1. Juli im Jahr 2.000 verfasst- von

JOHANNES NITSCHMANN. Er schrieb diesen als Reporter bei der Zeitung „Die Woche“ -mit dem Untertitel: Fälschungen sind nicht kreativ sondern kriminell – Wie der Borderline-Journalismus mit intellektuellen Klimmzügen verbrämt wird (Ein Gastbeitrag-etwas gekürzt von H.Högl).

Was die einen als „großen Schaden für die journalistische Glaubwürdigkeit“ beklagen, bejammern andere als „Ende einer Ära des Pop Journalismus“. Seitdem aufgeflogen ist, dass der Schweizer Autor Tom Kummer dem Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) jahrelang dreiste Interview-Fälschungen mit Hollywood-Stars angedreht hat, ist auf den Medienseiten eine heftige Debatte über den sogenannten „Borderline-Journalismus“ entbrannt. Für die einen ist Kummer ein Krimineller, für die anderen ein Kreativer, der im Grenzland von Fakt und Fiktion herumtollte. „Ein Stück Realität so lange drehen, bis es torkelt oder fliegt“, begeistert sich Wolfgang Büscher, langjähriger Autor des SZ-Magazins, über die „wunderbaren Ausgaben“ des schrägen Hochglanz-Supplements aus München: „In diesem Klima war vieles möglich, was sonst Misstrauen erregt.“

Es ist schon einigermaßen empörend, mit welchen intellektuellen Klimmzügen die Spaßfraktion in den Zeitungshäusern journalistische Fälschungen als Produkte eines „Konzeptkünstlers“ zu verbrämen sucht. Christian Bommarius, leitender Redakteur der „Berliner Zeitung“, hat – gewissermaßen als „ethisches Provisorium“ – eine bestechend einfache Faustregel gefunden in dieser dünkel- und dummerhaft geführten Debatte: „Journalisten sind keine Künstler.“ Wem die Wirklichkeit in Showbiz und Politik zu fad erscheint, um sie faktengetreu nachzuzeichnen, der sei an den Altmeister Egon Erwin Kisch erinnert: „Nichts ist erregender als die Wahrheit.“…..

Enthüllendes über Deutschlands Enthüllungs-Magazin, den „Spiegel“, hat der versierte Rechercheur Thomas Schuler in der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht. Dass die „Spiegel“-Leute bei ihren Recherchen weder Freund noch Feind kennen, sei unter Chefredakteur Stefan Aust längst nicht mehr gewährleistet, behauptet Schuler und listet ein langes Sündenregister auf: Aust zeige eine „(zu) große Nähe“ zu VW-Chef Ferdinand Piëch und Telekom-Chef Ron Sommer, der Anzeigen-Großkunde T-Online sei „bewusst hofiert“ worden. Zudem drucke Aust, etwa über Leo Kirch oder Bertelsmann, „zu viele freundliche Texte“. Die „Berliner Zeitung“ zitiert einen „Spiegel“-Reporter mit den Worten: „Wir haben beim Schreiben doch längst eine Schere im Kopf und fragen uns: Geht das oben überhaupt durch?“

Dass Aust selbst in dem Enthüllungsstück kaum zu Wort kommt, hat er sich nach der Darstellung Schulers selbst zuzuschreiben. Bei einem Gespräch über Investigativ-Journalismus und Interessenskonflikte habe Aust zunächst „ausweichend und gereizt“ geantwortet, dann habe er nurmehr geschimpft. Später weigerte sich der „Spiegel“-Chef, das Gespräch zu autorisieren. Schuler: „Er gibt den Wortlaut nicht zum Abdruck frei.“ Kaum zu glauben: Der große „Spiegel“-Chef reagiert wie ein kleiner Provinzpolitiker.

Wort „Sparen“- falscher Gebrauch!

Schlager Hans (Gastbeitrag)

„Sparen“ hat einen positiven „Geschmack“, eine positive Konnotation. Warum wird das Wort „Sparen“ verwendet (Sparstift), wenn => weggelassen oder gekürzt wird. Wir „verhunzen“ unsere Sprache! Bitte, laßt uns das nicht wollen

Mit förderlichen Grüßen Schlager Hans (Häufige Beobachtung unseres Mitglieds der „Medienkultur“)

Ein schönes Spielzeug für Volkskapitalisten. Tschechien

Dankenswerterweise hat mich nun Hans K o u b a (Wien) auf den einschlägigen Beitrag im „Spiegel“ über die Privatisierung in Tschechien aufmerksam gemacht.(Spiegel Nr. 22/ 1992).

Rascher als alle anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks privatisiert die Tschechoslowakei ihre Staatsbetriebe. Jeder Bürger kann Coupons kaufen und damit an einer Art Lotterie teilnehmen. Experten warnen vor einem Fiasko, clevere Jung-Unternehmer aber sehen die Chance ihres Lebens.
Das ehemalige Forschungsinstitut im Süden Prags birgt einen seltsamen Schatz. In langen, bis zu zwei Meter hohen Reihen türmen sich dort über 500 000 Hefte – jedes 1000 Kronen (etwa 56 Mark) wert, und schon bald wohl sehr viel mehr.
Die Dokumente mit dem zweischwänzigen böhmischen Löwen und dem slowakischen Doppelkreuz auf dem Deckblatt sind „Kuponova KnIzka“, Coupon-Büchlein. Mit diesen Scheinen können Anteile an CSFR-Unternehmen erworben werden.
Kein anderer Privatunternehmer im Land verfügt über so viele dieser Coupons wie Viktor Kozeny, 28. Der Präsident der Harvard Capital & Consulting Company, die in dem ehemaligen Forschungsinstitut untergebracht ist, hat die erstaunlichste Karriere im noch jungen Kapitalismus der Tschechoslowakei gemacht.
Anfang vergangener Woche ist die Privatisierung von über 1400 großen Staatsbetrieben angelaufen. Nach Abschluß der beispiellosen Aktion, das steht jetzt schon fest, wird der junge Tscheche das größte private Aktiendepot seines Landes kontrollieren.
Kein anderes ehemals sozialistisches Land will seine Staatsbetriebe so radikal und rasch in Privateigentum überführen wie die CSFR. Schon vor Ablauf des nächsten Jahres sollen rund drei Viertel aller tschechoslowakischen Großbetriebe in privater Hand sein.

Seit Januar 1991 wurden bereits über 20 000 ehemals staatliche Läden, Gaststätten, Werkstätten oder andere Kleinbetriebe versteigert. Über 100 000 Betriebe wurden an ihre früheren Eigentümer oder deren Erben zurückgegeben.
Das war die sogenannte kleine Privatisierung, nun folgt die große. Von den 4000 größten Unternehmen des Landes sollen nur ein Viertel in Staatshand bleiben, weil sie, wie etwa die Eisenbahn, von strategischer Bedeutung sind – oder zu marode.
Daß nun ausgerechnet der rotblonde, etwas pausbäckige Endzwanziger Kozeny zum Großkapitalisten aufsteigt, ist paradox. Die Vermögenskonzentration in Kozenys Hand wird nämlich nur dadurch möglich, daß die demokratische Führung in Prag ihre Bürger zu Kleinkapitalisten machen will.
Jeder Tscheche und Slowake über 18 Jahre sollte die Chance zum sehr preisgünstigen Erwerb eines kleinen Anteils an jenem Vermögen erhalten, das nach kommunistischer Doktrin schon immer dem Volk gehörte: den großen Staatsbetrieben.
Daneben hat sich die Regierung auch bemüht, Großbetriebe direkt an ausländische Interessenten (Beispiel: Skoda an VW) zu verkaufen. Solche Investoren haben den Vorteil, daß sie Know-how und Kapital mitbringen.
Rund 40 Prozent der gesamten CSFR-Wirtschaft aber sollen durch das Coupon-Verfahren in Privathand gelangen. Ausgetüftelt hatten es zwei polnische Wirtschaftswissenschaftler; die Polen selbst oder die Wirtschaftsreformer in anderen ehemaligen Ostblockländern wagten jedoch nicht, es anzuwenden.
Jeder der elf Millionen CSFR-Bürger konnte an diesem Privatisierungs-Lotto teilnehmen. Er mußte sich nur in den vergangenen Monaten bei der Post ein Coupon-Heft zum Preis von 35 Kronen (etwa zwei Mark) beschaffen und dann bei einer amtlichen Registrierungsstelle eine Wertmarke von 1000 Kronen kaufen. Dieser Betrag ist etwa so hoch wie ein durchschnittlicher Wochenlohn.
Wie viele Aktien für die 1000 Kronen zu erhalten sind, hängt von den Kauforders ab, die seit vergangener Woche erteilt werden können: Bietet der Coupon-Besitzer bei einem begehrten Unternehmen wie etwa der Pilsener Brauerei mit, erhält er nur einige wenige Anteilscheine oder womöglich sogar nur eine Aktie zugeteilt. Bei einem unattraktiven Unternehmen wie etwa einem veralteten Stahlwerk reichen 1000 Kronen dagegen zum Erwerb von Dutzenden oder gar mehreren hundert Aktien aus.
Viel mehr als ein Glücksspiel ist das nicht. In einer total verstaatlichten Wirtschaft, wie es die tschechoslowakische noch vor kurzem war, gibt es kaum Informationen über die Ertragskraft eines Unternehmens oder über den tatsächlichen Wert seiner Grundstücke, Gebäude und Fabrikationsanlagen.
Experten der Weltbank warnten die Prager Wirtschaftsreformer daher schon im August 1990 vor dem Zorn jener Kleinaktionäre, die beim großen Privatisierungs-Lotto nur Nieten ziehen. Darüber hinaus mißfiel ihnen, daß die Coupon-Methode zu einer sehr breiten Streuung der Aktien führen werde. Ein „allzu zersplitterter“ Aktionärskreis, fürchteten die Fachleute, werde das Management nicht effektiv genug kontrollieren können.
Trotz dieser Warnungen hielt die neue Prager Führung an der Coupon-Methode fest. Vor allem Bundesfinanzminister Vaclav Klaus, der Chef-Reformer in der CSFR-Regierung, machte sich für das neuartige Verfahren stark.
Im Vergleich zum mühsamen Direktverkauf hat das Coupon-System einen Vorzug, der nach Meinung von Klaus alle Nachteile mehr als aufwiegt: Der Vermögenstransfer läßt sich relativ rasch durchziehen.
Die Coupon-Privatisierer müssen nicht lange nach geeigneten Käufern für ihre – meist nicht sehr attraktiven – Objekte suchen. Auch gibt es keine langen Streitereien um die korrekte Bewertung der zum Verkauf stehenden Unternehmen. In einer Art Auktionsverfahren mit mehreren Bewertungsrunden wird der Bezugskurs so festgesetzt, daß die Nachfrage der Coupon-Halter nach Aktien einer bestimmten Firma schließlich mit dem Angebot übereinstimmt.
An dem Coupon-Monopoly können sich nicht nur die kleinen Heftchenkäufer beteiligen. Zugelassen sind auch professionelle Spieler.
Banken, Beratungsgesellschaften und selbsternannte Anlageexperten durften sogenannte Investment-Privatisierungs-Fonds (IPF) gründen. Ihnen konnte jeder Bürger, der sich keine eigene Anlageentscheidung zutraute, seine Coupons überlassen. Im Gegenzug erhalten alle, die ihre Gutscheine an einen IPF abgetreten haben, später Anteile an diesem Fonds.
Mit der Zulassung der IPF kam die große Stunde des Viktor Kozeny. Der Präsident der Harvard Capital & Consulting gründete acht Fonds, um auf die Jagd nach Coupons zu gehen.
Insgesamt ließen sich 437 IPF registrieren. Aber nur die Sparkassen mit ihrer riesigen Organisation hatten beim Einsammeln von Coupons noch ein wenig mehr Erfolg als der Harvard-Mann. 814 779 der über 8,5 Millionen Tschechen und Slowaken, die an der nun angelaufenen Privatisierungswelle teilnehmen, vertrauten alle ihre Coupons oder einen Teil davon den Fonds des jungen Pragers an.

Bis vor wenigen Monaten war der Aufsteiger in seiner Heimat ein Nobody. Nach dem Tod seines Vaters, eines Prager Mathematikprofessors, war Kozeny 1980 in die Bundesrepublik emigriert. Zwei Jahre später zog der junge Exiltscheche in die USA weiter. Er studierte an der Harvard-Universität, das Geld dafür verdiente er sich mit Gelegenheitsjobs.
Bevor Kozeny im Frühjahr 1990 in seine Heimatstadt zurückkehrte, sammelte er noch einige Monate Berufserfahrung bei einer kleinen Londoner Investmentbank. Dann machte er im Herbst 1990 mit einem Startkapital von 3000 Dollar seine eigene Anlageberatungsfirma auf.
Landesweit bekannt wurde Kozeny, als er Anfang Dezember vergangenen Jahres einen großangelegten, sehr aggressiven Werbefeldzug für seine Fonds startete. Der Clou der Kampagne war ein äußerst verlockendes Angebot: Jedem, der seine Coupons einem Harvard-Fonds überlassen werde, garantierte Kozeny eine Verzehnfachung des eingesetzten Kapitals von jeweils 1035 Kronen innerhalb eines Jahres.

Die Offerte löste einen Run auf Kozenys Firmenzentrale im tristen Prager Vorort Michle aus. Bis zu 17 000 Menschen drängten sich an Spitzentagen vor den Toren des Harvard-Hauptquartiers, um ihre Coupon-Hefte abzugeben.
Die Post, die jeden Coupon-Transfer an eine zentrale Erfassungsstelle melden muß, richtete ein Sonderamt in einem der größten Räume des Harvard-Gebäudes ein. Bis zu 50 Postbedienstete fertigten dort im Schichtbetrieb die Klienten Kozenys ab.

Über 25 000 Agenten schwärmten bis zum Böhmerwald und zu den Beskiden aus, um für Harvard Coupons zu sammeln. Kofferweise schleppte die riesige Drücker-Kolonne die Büchlein an.
Die düpierte Konkurrenz zog schließlich nach. Manche Fonds-Manager versprachen sogar, nach einem Jahr den 15bis 18fachen Einsatz zu erstatten. Doch Kozeny hatte bereits einen riesigen Vorsprung vor den Wettbewerbern.
Um zu verhindern, daß die Verwalter großer Fonds zu mächtig werden, setzte das Parlament vergangenen Monat ein Limit für die Beteiligung an Unternehmen. Höchstens 20 Prozent aller Aktien einer Firma darf ein Fonds besitzen, und wenn ein IPF-Gründer wie Kozeny mehrere Fonds aufgelegt hat, dürfen diese zusammen nicht mehr als 40 Prozent aufkaufen. Aber „das Gesetz ist wie ein Käse, voller Löcher“, spottet der Mann, gegen den diese Vorschrift in erster Linie gerichtet ist.
Die Gefahr, daß Kozeny zum Super-Tycoon der CSFR-Wirtschaft aufsteigt, wird von vielen Fachleuten allerdings nicht sehr hoch eingeschätzt. Wesentlich größer scheint das Risiko, daß er scheitert und seine Profitgarantie nicht halten kann.

„Die Harvard-Fonds werden an ihrem eigenen Marketing-Erfolg ersticken“, warnt beispielsweise Jaroslav Lizner, Chef des Coupon-Privatisierungszentrums im Prager Bundesfinanzministerium.
Nach Ansicht Lizners hat Kozeny allzu viele Coupons gehortet. Er kann sich nun nicht – wie der Manager eines kleinen Fonds – auf den Kauf von Anteilen an jenen 200 oder 300 Unternehmen beschränken, denen Kenner gute Entwicklungschancen in der Marktwirtschaft einräumen. Wegen ihrer riesigen Coupon-Vorräte sind die Harvard-Fonds dazu verdammt, auch in Unternehmen mit sehr zweifelhafter Zukunft einzusteigen.
„Schwierigkeiten, noch vernünftige Anlagemöglichkeiten zu finden“, sagt Karl Heinz Hauptmann, Berater der Prager Interbank, sogar schon allen Fonds voraus, die mehr als 100 000 Coupon-Büchlein gesammelt haben. Die Harvard-Fonds verfügen, in ihrer Prager Zentrale und andernorts, über mehr als achtmal so viele.
Kozeny gibt sich jedoch gelassen. „Wir haben so kalkuliert“, behauptet er, „daß wir unsere Ertragsgarantie auch dann noch halten können, wenn jeder zweite Betrieb, an dem wir uns beteiligen, geschlossen werden muß.“
Aber selbst wenn der Kurswert der Aktien in seinen Fonds-Depots sich verzehnfacht, kann Kozeny in Schwierigkeiten geraten. Wollen sehr viele Kleinanleger nach Ablauf der Jahresfrist den Garantie-Gewinn kassieren, braucht Kozeny eine Menge Bargeld: Im Extremfall, wenn alle Harvard-Anleger Bares wollen, müßte er gut 6,5 Milliarden Kronen (rund 370 Millionen Mark) auszahlen.

Versucht er, sich dieses Geld durch den Verkauf von Aktienpaketen zu beschaffen, stürzen die Kurse. Ausländische Spekulanten könnten diese Situation nutzen, um zu Schleuderpreisen in die frisch privatisierte tschechoslowakische Wirtschaft einzusteigen.
Kozeny baut darauf, daß nur jeder fünfte seiner Fonds-Schützlinge schon nach einem Jahr Bares sehen will. Für den Fall, daß diese Quote höher ist, hat er angeblich Vorsorge getroffen. „Wir haben Angebote New Yorker Banken“, behauptet er, „die uns Kredit geben wollen.“
In der CSFR halten viele den Jung-Kapitalisten ohnehin für einen Strohmann, der im Auftrag fremder Investoren arbeitet. Kozeny bestreitet das entschieden.

Der überraschende Aufstieg des Harvard-Mannes zu einer der wichtigsten Größen in der CSFR-Wirtschaft ist für Kritiker ein Beleg dafür, wie naiv Bundesfinanzminister Klaus und dessen Gefolgsleute an ihre Privatisierungsaufgabe herangegangen sind. „In der Regierung ist man überzeugt“, sagt Prinz JirI Lobkowicz, „daß ein Betrieb stets besser in Privat- als in Staatshand aufgehoben ist, auch wenn die neuen Eigentümer sehr dubiose Figuren sind.“
Der in der Schweiz geborene böhmische Adelssproß, ein erfahrener Investment-Banker, wollte in der Heimat seiner Vorfahren nicht nur für die Rückgabe des Familienbesitzes kämpfen, sondern auch die Regierung beim Umbau des Landes von der Murks- zur Marktwirtschaft beraten.
Nur ersteres gelang. Die Lobkowicz-Sippe hat inzwischen 17 Schlösser zurückerhalten.
Seinen Job als Berater von Wirtschaftsminister VladimIr Dlouhy dagegen gab der Prinz Ende März verärgert auf. Seiner Meinung nach ging die Regierung bei der Vorbereitung der Privatisierung allzu stümperhaft ans Werk.
„Die Coupon-Privatisierung ist zwar ein schönes Volkskapitalismus-Spielzeug“, höhnt Lobkowicz, „aber sie wird als große Farce enden.“
DER SPIEGEL 22/1992. 25.Mai

Es müssen noch viele Mauern fallen. Mauerfall 1989

Österreichs Medien berichten über Tschechien, wenn ihr Ministerpräsident einen Skandal hat. Über die Lebenssituation der Menschen des Nachbarlandes erfahren wir kaum etwas.

Hans Högl. Reportage

Eine Tagesexkursion führte unsere Gruppe nach Mähren. Gleich nach der österreichischen Grenze fallen die riesigen landwirtschaftlichen Flächen auf. Sie sind gut bestellt, nicht vernachlässigt wie ich dies in der Westukraine nahe eines Dorfes erlebte mit dem netten Namen übersetzt auf Deutsch „Gute-Nacht-Dorf“. Nein – die Felder in Mähren erscheinen gut bestellt.

Dem Kern meines Gesprächs mit dem Reiseleiter, einem Österreicher mit tschechischen Wurzeln, schicke ich eine andere Stellungnahme voraus. Er sagte, dass die Bauern unter den Kommunisten oft gar nicht so unzufrieden waren. Sie hatten meist ein bißchen Grund und Boden und konnten sich selbst versorgen. Um marxistische Theorien kümmerten sie sich nicht. Aber so unzufrieden waren sie nicht, sie hatten sichere Arbeitsplätze. Ähnliches erfuhr ich in Gesprächen in Bulgarien mit dem Hinweis, dass die Periode nach der Wende „furchtbar schwierig war“ (Vgl. früheren Blog).

Zu meiner Bemerkung zum Reiseleiter: „Eigentlich erfahren wir über Medien von Tschechien nur dann etwas, wenn sich ihr Ministerpräsident etwas zu Schulden kommen lässt.“ Der Reiseleiter: „Nein, so ist es nicht so. In der Zeitschrift Respekt findet man Beiträge über die Lebenssituation in Böhmen und Mähren.“ Leider: Die Zeitschrift „Respekt“ ist tschechisch geschrieben. Davon sind keine Berichte in maßgeblichen Medien Österreichs, vielleicht in Spezialmagazinen. Die Begleiterin des Reiseleiters pflichtet mir indirekt bei und sagt. Bei einer Begegnung ihrer österreichischen Schule mit einer ungarischen staunte sie nicht wenig, dass das ungarische Schulsystem ein völlig anderes ist. „Und wir in Österreich haben keine Ahnung davon, obwohl wir nur 50 km davon entfernt sind.“

Zurück zum Thema der überdimensional großen Feldern in Mähren. Dazu sagte mit bedrückter Stimme der Reiseleiter: „Das ist eine traurige Geschichte. Nach der Wende gab es die Coupon-Wirtschaft. Den ehemaligen Bauern wurden Papiere, Aktien, angeboten. Sie verstanden nicht, worum es sich handelte oder waren ihrer Landwirtschaft durch die lange Periode des Kommunismus entfremdet oder sahen sich nicht imstande, landwirtschaftliche Maschinen anzuschaffen. Und so kamen die Felder in die Hände von Oligarchen. Oder sie gehören den Banken“. Also an Personen, die den Kommunisten nahestanden oder waren. Sie rissen sich die Felder unter die Nägel. Ähnliches berichtete ARTE über die Ex-Sowjetunion: Den Arbeiter von großen Fabriken wurde nach der Wende Aktien angeboten. Gewiefte Manager gaben den Arbeitern zwei Flaschen Wodka und übertölpelten die Werktätigen. Und so kamen die Fabriken in die Hände von Oligarchen.

In Tschechien haben wir nun den Typus von Großgrundbesitzer. Kritik bei uns trifft aber die fernen Großgrundbesitzer Lateinamerikas. Wir und unsere Medien haben den Mauerfall mental noch nicht verarbeitet und tragen in unseren Köpfen Grenzbalken.

Der Durst des Oppositionspolitikers

Matthias Strolz gründete die liberale Partei „Neos“. Als Ex-Politiker gab er einer Journalistin der Monatszeitschrift „Datum“ ein Interview und traf überraschende Bonmots (Hans Högl)

Aussagen von Matthias Strolz:

„Es gibt ein bis zwei Wochen im Jahr, in denen ich das Handy abschalte. Mit einer Art Notfallerreichbarkeitskette“.

„Frauen sind für mich nahe am Gottesbeweis“.

Als Oppositionsführer ist die Leitfrage“: Was kritisiere ich heute? Das tut mir nicht gut.“

NB. Diesen Eindruck bloßer Negativität erweckt auch Tagesjournalismus. Wenngleich konstruktiver Journalismus bekannt ist. Wie steht dies mit dem ORF-Spitzenmann Armin Wolf – trotz all` seiner Verdienste?

Die österreichische Monatszeitschrift „Datum“ bringt stilistisch hervorragende Reportagen mit Seltenheitscharakter -z.B. im Oktober: „Zehn Jahre Uni brennt“/ Zum Tierwohl – Was schulden wir dem Schwein?/ Wo das Glück wohnt. Finnland soll das glücklichste Land der Welt sein. Warum? / Künstliche Intelligenz führt den Krieg von morgen / Wie drei Bürgerrechtler gegen die Einschränkung unserer Freiheit kämpfen (aus Budapest, Linz, Warschau)..

Sächsische Dörfer an polnischer Grenze und AfD

Folgenden Text fand ich in der Neuen Zürcher online Freitag 4.Okt. 2019. Geschildert werden Dörfer an der polnischen Grenze in Ostdeutschland und situative Hintergründe für den Aufstieg der AfD (Hans Högl)

Hier sei mal eine Kneipe gewesen, und da habe es mal einen Laden gegeben. Herr Hoffmann, der Taxifahrer aus Görlitz, deutet immer wieder auf Punkte links und rechts an der Strasse. Er scheint ein sicheres Gespür für die Auflösungserscheinungen sächsischer Dörfer zu haben. Er weiss, welche Höfe leer stehen und welche Restaurantbesitzer die DDR-Toiletten bis heute nicht ausgewechselt haben. 

Wir sind auf dem Weg von Görlitz in die Gemeinde Neisseaue, eine Ansammlung versprengter Strassendörfer an der deutsch-polnischen Grenze. Der grösste Ort heisst Zodel und hat etwas mehr als 500 Einwohner, der kleinste ist Emmerichswalde mit 13. Das ganze Gebiet ist mehr Naturreservat als Zivilisation, auf einem Quadratkilometer leben 36 Menschen. Der Ort wirbt damit, die «östlichste Gemeinde Deutschlands» zu sein. Man ist also in einem Raum, der schon fast Polen, aber immer noch Deutschland ist. Bei der Europawahl wählten hier 46,4 Prozent der Menschen die Alternative für Deutschland. Es war ein Rekordwert selbst für Sachsen.
Seit der Wahl ist von einer Spaltung des Landes die Rede. Die Grünen nehmen die westdeutschen Städte ein, die AfD räumt in den ostdeutschen Dörfern ab. In Sachsen und in Brandenburg machte die AfD das beste Ergebnis aller Parteien, in Thüringen das zweitbeste. In allen drei Bundesländern finden im Herbst Wahlen statt, und in Görlitz könnte bereits im Juni der erste AfD-Politiker in Deutschland zum Oberbürgermeister gewählt werden. Der Polizeikommissar Sebastian Wippel liegt nach dem ersten Wahlgang an der Spitze. Seine Plakate hängen in der ganzen Gegend: «Ein Görlitzer. Mit Sicherheit!»

«Wir sind am Arsch der Welt»
Alleen säumen die Strassen, dahinter liegen weite Felder. Menschen ziehen weg, und die Natur arbeitet langsam, aber beharrlich daran, das Gelände zurückzuerobern. Dorfstrukturen wie in Bayern habe es hier nie gegeben, sagt der Taxifahrer Hoffmann. Die Leute hätten nicht auf dem Dorfplatz getratscht, sondern beim Bäcker und über die Zäune hinweg. Wir sind gerade auf der Suche nach dem östlichsten Punkt Deutschlands zwischen Deschka und Zentendorf, da soll eine Art Denkmal stehen. Aber der Taxifahrer Hoffmann verfährt sich schon zum wiederholten Mal. Er chauffiert hauptsächlich kranke Menschen in der Gegend herum, zu Denkmälern fährt er nur selten. Schliesslich hält er vor einem Haus und bittet einen alten Deschkaer einzusteigen, um den Weg zu zeigen.

«Kneipen gibt es keine mehr, Bus weiss ich nicht, wir sind am Arsch der Welt», so fasst der neue Passagier die allgemeine Lage zusammen. Auch einen Laden gebe es in Deschka schon lange nicht mehr, Anfang der neunziger Jahre habe der «Konsum» geschlossen. Einmal in der Woche kommen nun Verkaufswagen vorbei und bringen Brot, Fleisch und Gemüse. Ein Sparkassenbus versorgt die Leute mit Bargeld. Wie hält der Mann es mit der AfD? «Muss nicht sein.» Er sei aber ohnehin nicht zur Wahl gegangen, denn das Wahllokal sei in Zodel gewesen, drei Kilometer entfernt. Früher sei er manchmal zum östlichsten Punkt Deutschlands spaziert, aber seit der Hund gestorben sei, mache er das nicht mehr. Alles scheint bei dem Mann aufs Aufhören angelegt zu sein.

Nur ans Wegziehen denkt er offenbar nicht. Er sei hier aufgewachsen, habe ein Haus gebaut und 44 Jahre lang als Polizist gearbeitet. Jetzt versuche er, so lange es gehe, hierzubleiben. Auch wenn das nicht immer schön sei. Manchmal funktioniere nicht einmal das Festnetz, sagt der alte Polizist. Dieses Jahr hätten Kriminelle schon zweimal Telefonleitungen abgebaut, Hunderte von Metern, nur wegen des Kupfers. 
Viel scheint der Mann nicht mehr zu erwarten. Wenn aber jemand käme und ein paar Dinge in Ordnung brächte, hätte er wohl nichts dagegen. Den AfD-Polizisten, der in Görlitz Oberbürgermeister werden will, findet er zum Beispiel sympathisch. Das heisst, er sei zumindest «kein Hirnverbrannter».

Der östlichste Zipfel Deutschlands ist ein seltsames Arrangement. Dazu gehören ein grosser Stein, ein «Zipfel-Buch», in das sich die Gäste eintragen können, ein Häuschen, das wie der Einstieg zu einem Atombunker aussieht, und eine verblichene Deutschlandfahne. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass die Reisegruppe an diesem Punkt besonders berührt sei. Der Taxifahrer Hoffmann nutzt den Halt für eine Rauchpause. Ein bisschen scheint er sich auch Sorgen zu machen um seinen Wagen, denn die Fahrt zum östlichsten Punkt Deutschlands gleicht einer Safari.

Am Ende der Reise stehen die AfD-Politiker Roberto Kuhnert und Heiko Titze an der Dorfstrasse in Zodel. Kuhnert ist selbständiger Baudienstleister und führt die AfD-Regionalgruppe Weisswasser, zu der auch Neisseaue gehört. Titze ist Polizeibeamter im Ruhestand und kommt aus Hähnichen, ein paar Kilometer weiter nördlich von hier. Männer wie Kuhnert und Titze ziehen nun für die AfD in die deutschen Parlamente ein, beide wurden vor einer Woche in den Görlitzer Kreistag gewählt. Das Gespräch findet in der Landbäckerei in Zodel statt, aber ganz wohl ist es den beiden Herren dabei nicht. Kuhnert redet betont leise, doch es nützt nichts. «Da wird es mir ganz übel, wenn ich das höre!», fährt ihn eine Kundin nach wenigen Minuten an. Kuhnert hat gerade berichtet, wie sehr die CDU in Sachsen versagt habe. Wenig später mischt sich eine weitere Frau ein: «Ministerpräsident Kretschmer hat viel bewirkt in der Region!»
54 Prozent wählen in Neisseaue nicht die AfD, daran haben die beiden Damen noch einmal erinnert. Kuhnert diskutiert mit ihnen, bis der Bäcker einschreitet: «Hier muss bedient werden!» Er hätte auch sagen können: «Hier darf nicht politisiert werden!» Der Bäcker fürchtet offenbar um sein Geschäft. In einem Dorf mit 500 Einwohnern kann er es sich nicht leisten, dass AfD-Politiker im Laden die CDU-Kundschaft vertreiben. Solche Szenen wie eben seien eine Ausnahme, sagt Kuhnert später. «Aber manche verteidigen die CDU heute so, wie früher Unverbesserliche die SED verteidigt haben, als es mit der DDR zu Ende ging.» Es sei Zeit für eine «neue Wende», sagt Kuhnert.

«Die Region fühlt sich abgehängt»
Titze ist ein schweigsamer Mann, meistens hat er die Arme verschränkt und die Mundecken leicht nach unten gezogen. Eigentlich wäre er noch immer gern Polizist, wie er sagt. Aber er habe einen Dienstunfall gehabt und danach sieben Operationen. Manchmal setzt er an und will etwas sagen, aber Kuhnert ist schneller. Der AfD-Mann aus Weisswasser gibt gern den Welterklärer. Vor allem aber ist er begeistert von den jüngsten Wahlerfolgen. «Uns wählt der komplette Querschnitt der Gesellschaft», sagt er. Wie zum Beweis fügt Titze hinzu, «mein Hausarzt hat mich auch gewählt». Kuhnert: «Es gibt keine Alternative zur Alternative!» Aber warum wählen gerade in Neisseaue so viele Leute die AfD? «Die Region fühlt sich abgehängt», sagt Kuhnert. «Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist so. Die Industrie siedelt sich mittlerweile in Polen an.»
Das eigene Unglück scheint sich im Erfolg der Polen noch zu vergrössern. Titze sagt: «Die Wirtschaft fehlt, die Jugend zieht weg. Viele Handwerker wollen junge Leute gar nicht mehr ausbilden, weil diese ohnehin in den Westen auswandern.» Für Kuhnert ist das Konzentrat aller Probleme die geringe Kaufkraft. Titze kann das nur bestätigen: «Die Leute können sich ja ein Bier im Gasthaus kaum noch leisten.» Der pure Patriotismus ende beim Portemonnaie, erklärt Kuhnert. Für den Friseur, Zigaretten und zum Tanken fahren viele Deutsche, die im Grenzgebiet leben, nach Polen.

«Man will keine Zustände wie in Berlin»
Eine tragende Rolle für den Erfolg der AfD spiele auch die Flüchtlingskrise, sagt Kuhnert. «Man will hier keine Zustände wie in Berlin.» Aber eigentlich geht es nicht einmal um Berlin, es geht schon um Görlitz und Zwickau. So peripher die Menschen auch leben, viele haben Angst, dass sie ihre Heimat irgendwann nicht mehr erkennen könnten. Titze erzählt, wie er kürzlich durch die Stadt spaziert sei, in der er geboren wurde. In der Einkaufsstrasse von Zwickau sehe es heute aus wie auf einem türkischen Basar. Titze wirkt weniger empört als enttäuscht.
Der Bäcker hört den Neopolitikern mit grimmiger Miene zu. Aber nur wenn keine Kunden im Laden sind. Irgendwann fragt er die AfD-Männer: «Denken Sie tatsächlich, dass die Presse Ihnen hilft?» Er rät ihnen, besser zu schweigen, denn Journalisten würden nur Unsinn verbreiten. «Jetzt haben wir dieselbe Situation wie am 17. Juni 1953», sagt er. «Journalisten kommen zu uns, um Sensationsberichte zu schreiben. Vorher hat sich für den Osten niemand interessiert!» Kuhnert beschwichtigt den Bäcker und macht seine heiser-feine Stimme noch etwas feiner. Der Vergleich der jetzigen politischen Situation mit dem Volksaufstand von 1953 in Berlin scheint niemanden zu wundern. Es sind die Relationen, in denen man hier denkt. Der Kampf gegen die SED wird bald mit dem Kampf gegen die CDU verglichen, der Volksaufstand von 1953 mit der Europawahl von 2019, die politischen Umbrüche der heutigen Zeit mit der Wende von 1989.