Anti-Russland-Kampagnen verwirken letzte Dialog-Chancen
Udo Bachmair
STANDARD-Redakteur Hans Rauscher, Experte für alle Themenbereiche und Weltregionen, weiß es wieder einmal ganz genau : „Putin bombt syrische Flüchtlinge über die Grenze in die Türkei“.
Er und auch andere westliche Mainstream-Journalisten gehen offenbar ohne Zweifel davon aus, dass auch hinter den Angriffen auf syrische Krankenhäuser und Schulen ausschließlich Putin steht. Trotz aller noch bestehenden Unklarheiten und Dementis.
Die Sicherheit mancher Journalisten auch von Qualitätsmedien, die Guten von den Bösen klar unterscheiden zu können, verwundert und verblüfft. Gerade ein so komplexer und gefährlicher Konflikt wie Syrien bedürfte abwägend differenzierender Berichterstattung.
Hier die Guten, die US-Bombardierer und die angeblich gemäßigte syrische Opposition ( inkl. dem Al Kaida-Ableger Nusra-Front …), dort die Bösen, eindeutig Russland sowie die syrische Armee. So erscheint das Bild aus westlicher (US-)Sicht, brav medial vermittelt.
Wahrheit ist durch blankes Freund-Feind-Denken noch selten erfasst worden. Zudem agiert keine Kriegspartei „moralischer“ als die andere. Der Schutz von Menschenleben und Menschenrechten sind (leider) keine Kategorie außen- und regionalpolitischer Interessen.
Aber nun nahezu alle Katastrophen der Welt Putin anzulasten, wie es die Feindbild-Kampagnen westlicher Medien suggerieren, erscheint nicht nur absurd, sondern befördert auch weitere Polarisierung und neuen Hass. Letzte Chancen für einen Dialog mit Moskau schwinden..
In Spiegel-Online hat Jakob Augstein folgende Überlegungen angestellt unter dem Titel :
Und schuld ist immer Putin
Hier das helle Europa, regiert von Demokraten, dort das dunkle Russland, beherrscht von einem machthungrigen Teufel. Für alle Übel unserer Zeit soll der russische Präsident verantwortlich sein. Doch diese Analyse ist allzu einfach.
Wenn man den Rechner anmacht: Putin. Wenn man die Zeitung aufschlägt: Putin. Wenn man den Fernseher einschaltet: Putin. Wenn man irgendwo in Europa einen Stein umdreht – wahrscheinlich stößt man auf Putin. Vom Ukraine-Konflikt über die Flüchtlingskrise bis hin zu Pegida: Der russische Präsident wird für alles verantwortlich gemacht, was auf dem Kontinent schiefläuft. Demnächst noch für Merkels Frisur. Putin ist wie ein Geist. Aber wie für alle Geister gilt auch für diesen: Den Putin, den wir überall sehen, den erfinden wir uns selbst.
Putinversteher, das Wort brachte es für eine kurze Zeit zu zweifelhafter Berühmtheit. Während der Ukrainekrise nannte man jene so, die entgegen dem westlichen Kodex dem russischen Präsidenten zugutehielten, auch er verhalte sich mehr oder weniger so vernünftig wie unsere eigenen Leute.
Damals galt Putin dem Westen schlicht als der Mad Man der internationalen Politik. Angela Merkel sagte, er lebe in seiner „eigenen Welt“. Das ist vorbei. Heute ist Putin einfach der Teufel.
Die Stimmung ist ja bekanntlich schlecht. Ulrich Wickert weiß auch warum: Die Russen sind schuld. „Ich persönlich halte es nicht für ausgeschlossen, dass der russische Geheimdienst den Begriff „Lügenpresse“ in Deutschland verbreitet hat“, sagte der alte TV-Haudegen Wickert in einem Interview. Der verdutzte Reporter verwies auf Pegida als wahrscheinlichere Quelle des schlimmen Wortes. Wickert entgegnete: „Ja, aber wie kam die Idee dort auf?“ Ob er dafür Belege habe, dass der russische Geheimdienst Pegida unterstützt, wurde Wickert gefragt: „Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken!“
So ist vieles, was heute mit den Russen zu tun hat: Man sagt nicht, dass es so ist – aber auch nicht, dass es nicht so ist.
Wir haben das Recht zum Moralisieren verwirkt
Eine unheimliche Atmosphäre der Verunsicherung macht sich breit, ein Fin-de-Siècle-Gefühl. Wir sehen uns umgeben von Spionen und Agenten.
Überall Anarchisten, Agitatoren, Terroristen – und Russen. Wir lesen unsere Gegenwart wie einen Roman aus dem viktorianischen Zeitalter: hier das helle Europa, das vernünftig regiert wird – dort das dunkle Russland, das der Gewalt, der Willkür und den Leidenschaften ausgeliefert ist, und das nach unserem Verderben trachtet.
Tatsächlich ist es irre, wenn der Außenminister des russischen Großreichs, das nicht weniger als elf Zeitzonen umfasst, sich persönlich in den „Fall“ eines 13-jährigen Mädchens – einer Deutschrussin – aus Marzahn einmischt, die Stress mit ihren Eltern hatte und darum nachts nicht nach Hause kam. Auf die Idee muss man erst mal kommen.
Andererseits muss man – wie die Briten – auch erst mal auf die Idee kommen, einen 329-Seiten-starken Bericht zu veröffentlichen, in dem es heißt, Putin habe „wahrscheinlich“ die Ermordung des früheren russischen Agenten Litwinenko gebilligt. Es finden sich darin keine Beweise dafür – stattdessen aber Litwinenkos Behauptung, Putin hatte Sex mit kleinen Jungen.
US-Senator Dan Coats, früher Botschafter in Berlin, wirft Russland vor, „Migration als Waffe“ einzusetzen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zürnt, Putin betreibe in Syrien „doppeltes Spiel“. Es möge ihnen allen die Zunge verdorren, die sich jetzt über die Opfer der Angriffe erregen. Fünf Jahre Bürgerkrieg, mindestens 250.000 Tote, mehr als elf Millionen, die ihre Heimat verloren haben – der Westen hat es nicht verhindert. Mit einer Mischung aus Desinteresse, Kalkül und Unfähigkeit haben wir zugesehen, wie Syrien zum Schlachthaus wurde. Das Recht zum Moralisieren haben wir verwirkt.
In Wahrheit dient diese Rhetorik dem Westen dazu, die eigene Aufrüstung in Osteuropa zu rechtfertigen. Denn dieser neue Kalte Krieg, er kommt uns selbst ganz gut zupass. Als Geist, der stets verneint, so brauchen wir unseren Putin! Alles, was man Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, ist sein eigentliches Element? Nicht nur seins.