Anti-Griechenland-Mainstream provoziert Gegenöffentlichkeit
Udo Bachmair
Nun ist eingetreten, was die meisten Journalisten und Politiker offenbar überrascht hat: Ein klares Nein der Griechen zu weiteren von der EU verordneten Sparvorgaben. Überrascht hat das Ergebnis hingegen jene nicht, die die Lage der von den Sparmaßnahmen schmerzlich betroffenen Bevölkerung richtig eingeschätzt haben. Die Kürzungen haben die schwächsten Bevölkerungsgruppen schon bisher am stärksten zu spüren bekommen. Und mit weiteren empfindlichen Einschnitten sollten sie noch weiter in die Armut getrieben werden. 4 von 10 Kindern leben in Armut, die Jugendarbeitslosigkeit ist auf annähernd 50 Prozent gestiegen.
„Griechenland soll sich endlich bewegen und den Reformen zustimmen“, tönt es unterdessen unermüdlich aus Brüssel. Aber wo und wohin soll sich ein ausgeblutetes Land überhaupt noch bewegen können ?
Ungeachtet solcher Überlegungen wird Griechenland-Bashing in vielen deutschen und österreichischen Medien ungehindert fortgesetzt. Und wie im Falle des Ukraine-Konflikts dominiert auch in der Causa Griechenland undifferenzierter Mainstream unter der Devise „Die Griechen sind schuld an der Misere“. Boulevard und Qualitätsmedien werden einander auch in dieser komplexen Frage in ihren Kommentaren immer ähnlicher…
Aus diesem Grund im Folgenden einige Stimmen der Gegenöffentlichkeit zur Griechenlandfrage :
Stephan Schulmeister auf Facebook :
Habe mir gerade das von Sozial- und Christdemokraten der Eurogruppe als „großzügig“ bezeichnete letzte Angebot an Griechenland angesehen, daraus nur die beiden konkretesten Punkte: 1) Im Juli muss die MWSt so stark erhöht werden, dass zusätzlich 1% vom BIP pro Jahr rausspringen – hauptbelastet: die Schwachen. 2) Das Pensionssystem ist so zu adaptieren (z. B. durch Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um 50%), dass wieder 1% vom BIP pro Jahr rausspringen – hauptbelastet sind die Schwachen (die meisten Pensionen liegen schon jetzt unter der Armutsgrenze). Ihr führenden Sozial- und Christdemokraten seid nicht mehr befähigt, die Lage der Betroffenen Eurer Maßnahmen wahrzunehmen. Es ist Eure Unfähigkeit zu anteilnehmendem Denken, die denen den Weg bereitet, die Anteilnahme spielen.
Sogar in der konservativen Springer-Zeitung DIE WELT kann man so etwas lesen:
Gleich drei von Amerikas prominentesten Wirtschaftswissenschaftlern haben die Griechenland-Politik der EU und speziell von Deutschland scharf kritisiert. Jeffrey Sachs, Paul Krugman und Barry Eichengreen zeigten sich entsetzt über die „inkompetente Politik“ in Brüssel und Berlin. Alle drei veröffentlichten am Wochenende Artikel, in denen sie der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) die Hauptschuld an der Krise in Griechenland gaben.
Und auf Spiegel-Online stellt Jakob Augstein fest:
„Es kann keinen Zweifel geben: Tsipras soll aus dem Amt gedrängt werden. Er ist der einzige, der sich dem Dogma der Austerität entgegenstellt. Er kämpft gegen eine Politik, in deren Folge die Ungleichheit in vielen Ländern zugenommen hat. Seine Regierung hat sich vorgenommen, die zügellose Macht des Geldes einzuhegen. Kein Wunder, dass der Mann ein Balken im Auge des neoliberal beherrschten Kontinents ist.“
Die deutsche Zeitung „Der Freitag“ schlagzeilt :
Im Dschungelcamp der deutschen Medien
Eine Kolumne von Georg Diez
Kein Unterschied, ob „Bild“, „Zeit“ oder ARD: In den deutschen Medien schwingen sich Journalisten reihenweise zu pöbelnden Parteigängern auf, statt Fakten und Analysen zur Griechenlandkrise zu bringen.
Es ist wir gegen die. Es ist Vernunft gegen Wahnsinn. Es ist eine „griechische Tragödie“. Es geht um „unser Geld“ (Anja Kohl), es geht um „unsere Leute“ (Sigmar Gabriel). Es ist Showdown, und die Waffen werden gezückt: Das „Handelsblatt“ zeigt Alexis Tsipras, der sich die Knarre an den Kopf hält, und findet, dass das noch Journalismus ist.
Viele fallen gerade aus der Rolle, viele zeigen ihr wahres Gesicht. Das ist so ziemlich das einzig Gute an dieser mal wieder desaströsen Woche im Dschungelcamp der deutschen Medien.
Anja Kohl zum Beispiel. Eine Frau, die seit Jahren nichts anderes tut, als dem Dax das Händchen zu halten, wenn es ihm mal nicht gut geht, und den Finanzkapitalismus anzufeuern, der im Kern die Ursache der Griechenlandkrise überhaupt ist.
Oder Marc Brost, der die ganze Titelseite der „Zeit“ dafür nutzen durfte, den „lieben Griechen“ papamäßig zu erklären, sie müssten sich „gegen die Politik wenden, die Sie erst vor fünf Monaten gewählt haben“; und zwar auf Deutsch und auf Griechisch, damit auch ja alle verstehen, dass das nicht etwa die Einzelmeinung eines Redakteurs ist, sondern ein Befehl der Schreibtisch-Merkantilisten von der „Zeit“.
Lustigerweise hatten sie dazu noch ein verrostetes Kreuzfahrtschiff als Illustration, die MS Hellas, die gerade dabei ist, über einen Wasserfall in die Tiefe zu stürzen. Die Zeile dazu war „Aufzeichnungen aus einer Woche des Wahnsinns“ – und man muss nicht Foucault gelesen haben, um zu wissen, dass hinter jeder Definition von Wahnsinn konkrete Interessen stecken, dass sich in einer pathologisierten Wirklichkeit direkte Macht spiegelt.
War es denn etwa Wahnsinn, immer mehr Euros in ein Loch zu schütten ohne Boden, wovor Gianis Varoufakis warnte und was er, wie alle, die für einen Schuldenschnitt waren, verhindern wollte – was aber nicht im Interesse der Banken war, die von den Zinsen dieser Schulden ja prächtig leben?
Oder war es Wahnsinn, dass man fünf Jahre mit verschiedenen griechischen Regierungen verhandelt und „Hilfsprogramme auflegt“ – und kaum kommt eine Regierung an die Macht, die deshalb gewählt wurde, weil die „Hilfsprogramme“ eben nicht funktioniert haben, wird diese Regierung dafür verantwortlich gemacht, dass sie in ein paar Monaten nicht geschafft hat, was die Nussknacker von der EU in fünf Jahren Verhandlungen nicht hinbekommen haben – die Entmachtung der korrupten Eliten zum Beispiel oder ein funktionierendes Katasterwesen?
Großes Händeringen, tiefe Betrübnis, echte Sorgen
Die Zeit schrumpft eben zusammen, wenn man solche Worte wie Wahnsinn verwendet. Die Kausalität verschwindet. Es ist genau das gleiche wie mit dem Gerede von der „griechischen Tragödie“: Huhu, großes Händeringen, tiefe Betrübnis, echte Sorgen.
Und eine Tragödie – das wissen die Altphilologen in der Regierung, da kann man echt nichts machen – ist das Werk der Götter, die wie immer launisch sind. Der Mensch wird da zum Spielball, sei es der Rentner, der langsam verhungert: Ursachen, das ist im Wort von der Tragödie angelegt, Ursachen sind nicht zu erkennen bei dem Riesenverhau.
Dass die „Bild“ den Schmeißt-sie-raus-Populismus noch ein wenig pimpt und zum eigenen Referendum aufruft: eklig, geschenkt; dass aber zum Beispiel Mister Fassungslos, Frank-Walter Steinmeier, in all den Jahren nicht offensiv davon gesprochen hat, das zwischen 77 (SPIEGEL ONLINE) und 90 Prozent („Guardian„) der „Hilfsgelder“ direkt an die Banken gingen und nicht an die griechische Bevölkerung?!
Aber die SPD ist ja jetzt auch eine Kohleverschmutzungs- und Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Sicherheitspartei und verrät – wie die anderen sozialdemokratischen Parteien Europas auch – ein Land, das nicht von Tsipras, sondern von langfristigen Interessen und grundsätzlichen Fehlern über den Abgrund getrieben wird: Fehler, die, und das ist die Schuld der agierenden Politiker in der EU, in den Jahren seit 2008 hätten behoben werden müssen.
Was wäre also, wenn James Galbraith Recht hätte, der Merkel, Hollande etc. „flach“ findet, eingesperrt in ihrer eigenen Realität und „moralisch und intellektuell zu unterversorgt, um ein kontinentales Problem zu lösen“?
Sie würden sich freuen, wenn sie bald wieder einen der ihren am Tisch sitzen hätten, einen, der nicht politisch denkt, wie Tsipras, sondern finanzpolitisch wie sie, einen wie Samaras zum Beispiel, der macht, was sie wollen – und Ruhe ist.
Es kann aber natürlich auch sein, dass bald mal die Neonazis von der Goldenen Morgenröte an die Macht kommen. Das ist dann aber echt die Schuld der Griechen, und zwar der Griechen allein.