Lob für ORF-Sendung „Bürgeranwalt“

Aus Angst konkrete Furcht machen

Hans Högl

Eben stand ich vor einem Papiercontainer und entsorgte Unmengen an Zeitungsseiten. Alles dreht sich nur um ein einziges Thema, das jahrelang vernachlässigt wurde.

Was mich kürzlich sehr beeindruckt hat, war die Sendung „Bürgeranwalt“ in ORF 2. Hier äußerten sich „kleine Leute“, wie sie die Ereignisse in der Ukraine erleben. Es waren ausgewählte Personen aus der Menge und sie wurden gefragt, wie sie Medienberichte hier in Österreich interpretieren. Am meisten ging mir die Äußerung einer Frau nahe, die sagte, sie sorge sich jetzt um die Enkelkinder. „Was soll aus ihnen werden?“.

Leider hat Putin durch seine Anspielungen auch Ängste um einen Atomkrieg geweckt, und so stellte sich im Publikum die Frage, ob bestimmte Medikamente in genügender Anzahl vorhanden wären und wie es um zivilgesellschaftliche Schutzräume steht.

Die Sendung war ein kleiner Beitrag zu einer vernünftigen Beruhigung, sie nahm Ängste, aber es wurde versucht, darauf zu antworten, wenn auch der befragte General dies nicht recht mit seinen dürren Worten vermochte.

Ukraine: Mächte und Menschen-Rechte

Kriegsursachen jenseits der täglichen Medienflut

Hans Högl

1948 wurden die Menschenrechte verkündet, und darum wird seitdem der 10. Dezember als Tag der Menschenrechte begangen. Schon lange vor dem 10. Dezember 2022 kennen wir, wie der Krieg um die Ukraine sein Ende findet. Nach dem Dreißigjährigem Krieg kam es 1648 zum Friedensschluss, nach den Napoleonischen Kriegen fand Europa 1815 eine Vereinbarung, die – wie fragwürdig auch immer- Frieden schuf. Und 1948 – nach dem furchtbaren 2. Weltkrieg- entschieden sich die meisten Staaten der Welt im Sinne der Vernunft für die Menschen“rechte“.

Wer authentisch die Menschenrechte befürwortet, tut gut daran, trotz ideeller Gesinnung zu sehen, wie in der Regel Realpolitik vor sich geht. Auch jetzt. Viele Bücher und viel Mediengerede sind beiläufig,fragen nicht nach den Hintergründen, doch manche Bücher, ja Bücher (1) schrieben sich ins wissenschaftlicher Langzeit-Gedächtnis – wie der Text jenseits jeder Ethik: „Der Fürst“ von Machiavelli.

Und fast nur aus einer Machtperspektive – und zwar jener der Weltmacht USA – schrieb 1977 der gebürtige Pole und Berater von US-Präsident Carter (1977-1981) das Buch mit dem englischen Titel „Das große Schachbrett“ (der Welt). Das Fischer Taschenbuch (7. Aufl. 2003) heißt: „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. Wir entnehmen dem Buch einige Äußerungen im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine.

Amerikas potentielle Herausforderer sind ausnahmslos eurasische Staaten (Brzezinski 2003, 57). Die Dominanz auf dem eurasischen Kontinent (von Lissabon bis hinter Sibirien) ist Bedingung für globale Vormacht. Die USA, als außer-eurasischer Macht, hat Truppen an drei Randgebieten in Eurasien präsent. Irgendwann könnte (so Brzezinski p. 64 f.) ihr ein potentieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen. Die Hauptziele für globale Macht lauten: „Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern“ und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren (p. 65 f.).

Es gibt (Stand 1977) fünf geostrategische Hauptakteure und fünf Dreh-und Angelpunkte in Eurasien zu ermitteln: Frankreich, Deutschland, Russland, China und Indien sind Hauptakteure, während Großbritannien, Japan, Indonesien zwar sehr wichtig, aber keine Hauptakteure sind. Die Ukraine, Aserbeidschan, Südkorea, die Türkei und der Iran stellen entscheidende, geopolitische Dreh- und Angelpunkte dar.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war für sie am beunruhigendsten 1991 der Verlust der Ukraine, da mehr als 300 Jahre russischer Reichsgeschichte gegenstandslos wurden, und es war der Verlust einer reichen industriellen und agrarischen Wirtschaft. Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer mit Odessa (die Krim wird nicht genannt) und machte es „fassungslos“- so Prof. Zbigniew Brzezinski.

Und dies gilt 2022 auch für Putin, der Russland im Zugriff der Nato sieht und darum den opferreichen und bestürzenden Ukrainekrieg auslöste. Wer seine ganze Rede – wiedergegeben im deutschen „Handelsblatt“- gelesen hat, wird ihm eine brutale Rationalität zugestehen, die aber von falschen Prämissen über das Brudervolk der Ukraine ausgeht. Die Sowjets meinten irrtümlicherweise auch, dass die Polen und Ungarn 1956 und die Tschechen 1968 ihre Panzer begrüßen würden…..

Medienpolitik: Veranstaltungstipp

Der Presseclub Concordia lädt in Zusammenarbeit mit VsUM
zur Diskussions-Veranstaltung:

Die Zukunft der RTR

Zeit: Mittwoch, 16. März 2022, 18.30 Uhr
Ort: Presseclub Concordia, Bankgasse 8, 1010 Wien

Einer der einflussreichsten Posten der österreichischen Medienlandschaft wird in den kommenden Wochen neu besetzt: die Leitung des Fachbereichs Medien der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH RTR.

Zuständig ist die RTR unter anderem für die Vergabe der Mittel der Medienfonds für Privatrundfunk und nicht-kommerziellen Rundfunk und für den Fernsehfonds Austria sowie für die Administration von Presse- und Publizistikförderung.

Die Neugestaltung des Medienstandorts Österreich ist nicht zuletzt nach der aktuellen Chat- und Inseratenaffäre eines der wichtigsten Themen für unabhängige, freie Berichterstattung und Mediengestaltung.

Dazu stellen sich zahlreiche Fragen, wie zum Beispiel:

• Welche Rolle kann und soll die RTR für den Medienstandort in Zukunft spielen?
• Welche Werkzeuge stehen der RTR dazu zur Verfügung und welche Möglichkeiten könnten erweitert werden?
• Wäre der Fachbereich Medien der RTR ein Ort, an dem über das Verhältnis von staatlicher Förderung und unabhängigen Medien nachgedacht und diskutiert werden könnte?

Dazu spricht Golli Marboe , Mitglied im Presseclub Concordia, Obmann des Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien (VsUM).

Gesprächspartner*innen:
Corinna Drumm, Geschäftsführung VÖP, Verband Österreichischer Privatsender
Sebastian Loudon, Herausgeber DATUM und Verlagsrepräsentant DIE ZEIT
Krisztina Rozgonyi, Universität Wien, Mitglied im Fachbeirat der RTR
Katharina Schell, Vizepräsidentin Presseclub Concordia, Mitglied der APA Chefredaktion

„Krieg“ als vermiedenes Wort

Texte aus der Zeitschrift „Ja“ von Pater Udo /Stift Göttweig/ zum Ukraine-Krieg. Der Benediktinerpriester, ist bekanntgeworden als kirchlich progressiver Gegenspieler zum konservativen Bischof Krenn.

Zitate ausgewählt von Hans Högl

„Ausschließlich evangelische Worte“: Das Morden in der Ukraine darf in Russland nicht „Krieg“, sondern nur „Militäroperation“ genannt werden. Alles andere ist seit dem Zensurgesetz vom 4. März strafbar.

Papst Franziskus hat kürzlich die russische Invasion der Ukraine „Krieg“ genannt, allen Helfern gedankt, vor allem den vom neuen Gesetz bedrohten Journalisten.

Der orthodoxe Moskauer Patriarch Kyrill bezeichnet den Einsatz seiner Soldaten hingegen als Akt der „Nächsten-Liebe“. Nicht alle seiner Geistlichen folgen ihm. Etwa Ioann Burdin, Vorsteher der Auferstehungskirche von Karabanovo rund 300 Kilometer nordwestlich von Moskau. Nach einer Sonntags-Predigt vor zehn (!) Gläubigen wurde er von der Polizei verhört. Ihm werden im Polizeiprotokoll „öffentliche Handlungen, gerichtet auf die Diskreditierung der Streitkräfte Russlands“, vorgeworfen.

Budins Verteidigung: In seiner Predigt habe es keinerlei politische Aufrufe gegeben, sondern „ausschließlich evangelische Worte“. Diese seien 2.000 Jahre alt, einige noch älter, beispielsweise das alttestamentarische Gebot „Du sollst nicht töten“.

Er habe die Gläubigen aufgerufen, den Hass nicht in ihre Herzen zu lassen, denn das führe zu einem Teufelskreis. Seine Ablehnung des Tötens betreffe beide Seiten, für die Kirche sei egal, weswegen getötet werde. Die Sünde bleibe in jedem Fall eine Sünde. Derlei Biblisches ist dem obersten Kirchenführer in Moskau offenkundig fremd. So P. Udos Zeitschrift.
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In der Schweiz wird Ähnliches bestätigt: Die Uni Freiburg strafte russischen Kirchenfürsten ab: Hilarion, der «Aussenminister» der russisch-orthodoxen Kirche, darf sich nicht mehr Titularprofessor der Universität Freiburg nennen. Denn er hat sich geweigert, Putins Krieg öffentlich zu verurteilen.

Eventkultur und Osteuropa. Fotoausstellung

Fotojournalist zur Eventkultur und Osteuropa (Ukraine)

Hans Högl

Die bekannte Fotogalerie „Westlicht“- unweit vom Westbahnhof-(Kaiserstraße 49), zeigt bis 15. Mai 2022 Dokumentarfotos von Reiner Riedler, der auch im Centre Pompidou ausstellte.

Es wäre sehr verkürzt, zu sagen, diese Dokumentation handelt primär von Osteuropa (Ukraine und Albanien); denn dies ist nur ein Bruchteil der bemerkenswerten Ausstellung. Im Fokus sind Auswüchse der Eventkultur, Orte der Sehnsucht und Flucht aus dem Alltag, so auch ein ukrainisches Festessen und ein russischer Zirkus. Jedenfalls lohnt ein Besuch. Die Galerie „Westlicht“ bringt auch jedes Jahr die ausgezeichneten Pressefotos des Jahres.

Corona und ökonomische Belastung

Höhere Coronaeinbußen in Österreich als bei Nachbarländern

Hans Högl

Die Schweiz ist wirtschaftlich recht glimpflich durch die Corona-Krise gekommen. Über die gut zwei Corona-Jahre haben sich die gesamtwirtschaftlichen Verluste auf rund 28 Milliarden Franken summiert, rund 3,8 Prozent der Wirtschaftsleistung von 2019. Berücksichtigt man das eigentlich erwartete Wachstum, liegen die Verluste etwas höher, nämlich bei rund 42 Milliarden Franken. In Österreich hingegen beliefen sich die wirtschaftlichen Einbußen bis Ende 2021 auf rund 10 Prozent des jährlichen BIP, in Deutschland auf 7,5 Prozent eines jährlichen BIP.

Werben für gewaltlose Politik

Wer hätte das vor wenigen Wochen noch gedacht, dass Gewalt und Krieg in Europa wieder die Oberhand gewinnen würden.

Udo Bachmair

Es ist wahrlich unfassbar, nach einer langen Friedensphase nun zurückgeworfen zu sein auf kriegerische Konfliktlösung offenbar jenseits jeglichen zivilisatorischen Fortschritts, den man bis vor kurzem noch als existent und erreicht betrachtet hatte.

Der Aggressor im Ukraine-Krieg ist klar zu benennen. Es ist Russlands Präsident Wladimir Putin. Doch seine völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine ist nicht zu verstehen ohne eine bereits jahrelang zuvor vom Westen und der NATO massiv betriebene Feindbildpflege. Russland ist von westlicher Propaganda in Politik und Medien beharrlich zum Feindbild Nummer 1 aufgebaut worden.

Die provokative NATO-Erweiterung bis an die Grenzen Russlands hat auch nicht gerade zur Besänftigung russischer Ängste beigetragen. Ganz im Gegenteil: Angesichts des aggressiven Charakters der NATO, wie die letzten 3 Jahrzehnte zeigen – Beispiele Irak über Jugoslawien bis Libyen – erscheint russische Besorgnis nicht unverständlich.

Machen wir uns nichts vor: Auf beiden Seiten eines Krieges wird Propaganda als Mittel der Kriegsführung eingesetzt. Unabhängig davon, ob Propaganda aus einem westlich demokratischen Bereich oder einem autoritär geführten Staat wie Russland kommt. Warum etwa US-Propaganda „wahrer“ sein sollte, Beispiel die Fakes zur Begründung des Angriffskrieges auf den Irak, entzieht sich jeder vernünftigen Beurteilung,

Was nun Gebot der Stunde ist, ist weitere Eskalation des Ukraine-Krieges, weitere Tote, weiteres Leid zu verhindern. Das kann nicht durch weitere Aufrüstung der Ukraine und den Einsatz tausender Söldner aus dem Ausland erreicht werden, sondern durch diplomatische Beweglichkeit. Diese aber lassen beide Kriegsparteien vermissen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wichtig und sinnvoll in Zeiten wie diesen sind besonnene Stimmen aus Politik und Medien mit unermüdlichem Werben für eine gewaltlose Politik. Eine dieser Stimmen ist die von Sepp Wall-Strasser, Theologe und Wirtschaftswissenschafter. Der SPÖ-Bürgermeister der oberösterreichischen Stadt Gallneukirchen hat eine entsprechende Botschaft via Facebook verbreitet:

„Viele fordern jetzt, Putin zu töten ( „Kopfgelder“ ; Timoschenko „er ist das absolute Böse, wir sind das Licht“ => das Böse muss ausgerottet werden; Forderung eines regime-change,…). Sollte dies passieren, müssen wir damit rechnen, dass dieses Riesenreich in unkontrollierbare Auseinandersetzungen, und, von nationalistischen, rechtsextrem und/oder religiös-fundamentalistisch motivierten Bewegungen und Parteien angetriebenen Kämpfen im kriegerischen Chaos endet. Ein Libyen oder Syrien von Moskau bis Wladivostok… Hirn-und strategieloser können solche Forderungen nicht sein. Es müssen JETZT Schritte für nichtkriegerische Lösungen gefunden werden.

Die Fortsetzung der Dämonisierung und Heroisierung verschlimmert die Lage von Tag zu Tag. Und was gewinnt die Welt dabei? Auch nach Millionen Toten muss irgendjemand zu verhandeln beginnen. Nur weiss niemand, wer bis dahin überlebt hat, und – falls es „Freiheit“ gibt- für wen? Bereits seit Jahren denkt Politik – sowohl „westliche“ wie „östliche“ lmmer mehr in militärischen Kategorien. Dies fällt uns jetzt auf den Kopf. Verhandeln, friedliche Koexistenz, empathische Politik, Zugestehen von historisch bedingten Ängsten und Interessen werden als Schwäche ausgelegt. So kommt es zu „Kränkungen“ und Demütigungen (die nach Haller regelmäßig ihren Ausweg in der Rache suchen). „Recht haben/kriegen“ klafft da auseinander/ kann zum Gegensatz werden zu einer Politik der klugen Lösungen.

Wie sehr sich die Stimmung seit der Nachkriegszeit geändert und die Politik verrannt hat zeigt das Beispiel Deutschland. Während man nach zwei Weltkriegen besorgt war, dass Deutschlands Politik in aller Zukunft auf Demilitarisierung ausgerichtet sei, musste es sich in den letzten Monaten in die Ecke treiben lassen, wieso es KEINE Waffen liefere. Und dann gab es standing Ovations für das größte Aufrüstungsprogramm ever… Dieser Krieg heute ist das Erbe von 30 Jahre unvernünftiger Politik. Wir können es kaum noch ändern. Aber die fatalen Entscheidungen dieser Tage legen die Grundsteine für die Katastrophen von morgen.

Wir sind immer großteils die Erben der Politiken der vergangenen Jahre. Daher müssen wir uns lösen von deren Fesseln und auf eine Politik der nichtkriegerischen und gewaltfreien Politik zurückkommen, wie sie in Ansätzen nach dem Trauma des 2. Weltkrieges doch größere Teile der Politik beherrscht hat. Heutiger Mainstream lässt Politiker wie Roosevelt, Palme, Brandt und Kreisky gar nicht mehr zu. Gesiegt haben die, die ihrem Land die Position „Number ONE“ versprechen, das „Kämpfen bis zum letzten Mann“, die Rettung der heiligen Heimaterde… Vielleicht kann uns eine neue Form der Friedensbewegung, die wir jetzt beginnen müssen, noch retten. Aber es wäre das erste Mal, dass so eine sich durchsetzt VOR der großen Katastrophe. Vielleicht rettet uns diesmal schlicht und einfach die banale Tatsache, dass Biden und den USA der Krieg mit Russland nicht reinpasst, weil sie sich auf die Konfrontation mit China eingestellt haben.“

Plädoyer für Deeskalation

Selten hat ein Zeitungsinterview derartig hasserfüllte Postings ausgelöst wie das heute erschienene STANDARD-Gespräch mit dem Autor und Übersetzer Alexander Nitzberg zum Ukraine-Krieg.

Udo Bachmair

Der sinnlose und brutale russische Krieg gegen die Ukraine ist menschlich und völkerrechtlich unmissverständlich zu verurteilen. Dennoch sollte trotz aller berechtigten Empörung auch Platz sein für differenzierende Betrachtung von Ursachen und Hintergründen dieses Krieges. Dies hat jedoch in den Medien zurzeit kaum Platz. Und wenn, dann ausschließlich aus der Sicht von USA, EU und NATO.

Wohltuend jenseits von Kriegspropaganda und traditionell antirussischem Mainstream westlicher Berichterstattung sind Veröffentlichungen, die etwas gemäßigter und differenzierter ausfallen. So das erwähnte Interview, das STANDARD-Redakteur Ronald Pohl mit dem in Wien lebenden Autor und Übersetzer Alexander Nitzberg geführt hat.

Nitzberg ist vor allem durch vielgelobte Neuübertragungen von Bulgakov-Romanen bekanntgeworden. So etwa durch die Übersetzung des weltberühmten Ukraine-Romans „Die weiße Garde“. Nitzberg, Sohn eines Künstlerpaares, rät angesichts des jetzigen Krieges zu Mäßigung und Deeskalation.

Im Folgenden das Gespräch mit Alexander Nitzberg im Wortlaut :

„STANDARD: Präsident Putin hat die Existenz einer ukrainischen Nation regelrecht in Abrede gestellt.

Nitzberg: Ich habe Putins Rede vom 24.2. auf Russisch gehört und eine solche Passage eigentlich nicht vernommen. Russlands Außenminister Lawrow hat erst unlängst gesagt, dass das russische Volk das ukrainische respektiere und als sein Brudervolk ansehe.

STANDARD: Hat Putin nicht explizit von „Denationalisierung“ gesprochen?

Nitzberg: Er sprach wörtlich von „Denazifizierung“. Putins Rhetorik zielt also auf eine Form des ukrainischen Nationalismus, die bis zum Nazismus reicht. Blicken wir auf die beiden Sprachen: Die Wissenschaft konzediert der ukrainischen Sprache eine eigenständige Entwicklung. Aus dem Altrussischen haben sich verschiedene Sprachen entwickelt, Russisch und Ukrainisch verhalten sich zueinander wie etwa Deutsch und Niederländisch. So etwas ist immer ein Politikum: Sobald Sie behaupten, Ukrainisch sei gar keine eigenständige Sprache, sondern ein Dialekt, bewirken Sie etwas. So etwas hängt von der Perspektive ab. Was wäre der sprachliche „Urmeter“, an dem Sie Maß nähmen? Man kann derartige Definitionen nicht der Sprache selbst entnehmen.

STANDARD: Wie kann man die Katastrophe jetzt beenden?

Nitzberg: Es muss ein Faktor der Menschlichkeit das Handeln leiten, und zwar in beide Richtungen. Ich meine damit eine aktiv gelebte Neutralität. Wenn uns Bulgakows Roman Die weiße Garde etwas lehrt, dann Folgendes: Völker werden zu Spielbällen unterschiedlicher Kräfte, gerade auch solcher, die man nicht sieht. Kämpfe werden aber auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen, und die Menschen fahren einander schließlich an die Kehle. Grundfalsch wäre ein Schwarzweißmuster der Art: „Hier haben wir es mit dem Guten zu tun, dort mit dem Bösen“.

STANDARD: Hat Sie der 24. Februar überrascht?

Nitzberg: Nicht wirklich. Aber man könnte sich auch die Frage stellen: Wer kämpft hier gegen wen? Eine Antwort lautet: Russland gegen die Ukraine. Doch in Wahrheit halten sich sehr viel mehr „Spieler“ auf dem Spielbrett auf, darunter solche, die massive Eigeninteressen vertreten, wie die USA.

STANDARD: Reagiert der Westen zu emotional?

Nitzberg: Unter den Literaten und Übersetzern wird vielfach derart hysterisch reagiert, dass es mir regelrecht den Atem verschlägt, gerade in Österreich und Deutschland. Manche Übersetzer geben sich ungemein martialisch. Jeder Versuch, etwas zu dämpfen, um in sich gehen zu können, um Distanz zu gewinnen, wird so verunmöglicht. Dabei wäre es die angemessene Haltung eines Intellektuellen. Kriegszeiten sind Zeiten der Propaganda. Jeder Misserfolg wird dem Gegner in die Schuhe geschoben. Wenn Sie in einem Hochhaus sitzen und einen Granateneinschlag beobachten – woher wollen Sie wissen, von welcher Seite das Geschoss stammt? Hier in Österreich schwingen sich manche Leute nach zwei, drei Tagen zu Akteuren auf. Dabei rühren sie die Kriegstrommel. Unser „Job“ als Intellektuelle ist es doch, Zurückhaltung zu üben.

STANDARD: Viele lassen sich mitreißen?

Nitzberg: Die Frankfurter Buchmesse hat Russland ausgeladen. Das wäre an sich schon schlimm genug. Aber: Der ukrainische PEN-Club fordert die Weltbevölkerung auf, die gesamte russische Literatur zu boykottieren. Mit der Begründung, es würden in der russischen Literatur immer wieder Elemente auftauchen, die die Ukraine beleidigen! Meine Mutter, Jahrgang 1935, hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sie hat als Kind Deutsch gelernt. Ich habe sie daraufhin gefragt: Wurde während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Literatur etwa von den Behörden verboten? Sie antwortete: im Gegenteil. Man hat Goethe, Schiller, Heine rauf und runter rezitiert. Die Sowjetlehrer argumentierten, Deutschland sei eine Kulturnation mit großartigen Schriftstellern. Hitler ist der Zerstörer. Aber die eigentliche Kultur muss verbreitet werden. Wir Menschen der Schrift haben doch eine Mission. Wir müssen die Menschen zusammenbringen, unabhängig von Ethnie und Ideologie.

STANDARD: Ideologische Einschreibungen werden häufig erst nachträglich vorgenommen.

Nitzberg: Man kann Weltliteratur nicht danach beurteilen, ob irgendwelche „problematischen“ Sätze fallen. Meine Position in all den Jahren ist die gelebte Neutralität. Literatur und Kultur gehören aus der Umklammerung durch die Politik herausgelöst. Ich möchte als Übersetzer stets zeigen, ob ich nun Bulgakow oder Charms ins Deutsche übertrage: Es ist immer eine Unart, ein großes Werk der Weltliteratur ausschließlich durch die politische Brille zu lesen. Es ist sinnlos zu fragen, ob ein Werk „für“ etwas oder „gegen“ etwas ist.

STANDARD: Fehlt uns Sinn für Ambivalenz?

Nitzberg: Es gibt nur noch richtig oder falsch, gleich ob es ums Klima geht, um das Geschlecht, um die „Rasse“. Ist man für Putin, gegen Putin? Das sind doch allesamt simplifizierende Haltungen. Ich habe in den vergangenen Jahren wiederholt mit jungen ukrainischen Künstlern Debatten geführt, die rasch „heiß“ wurden. Sie wurden von meinen Freunden gelegentlich sehr nationalistisch geführt. Solche Meinungen kamen von Menschen, die sich für gewöhnlich kosmopolitisch geben. Es finden sich solche Reflexe häufig bei ursächlich emanzipatorischen Bewegungen. Muss eine engagierte Feministin zwangsläufig eine Männerhasserin sein? Wenn Sie an den ukrainischen PEN denken: Was wäre der nächste logische Schritt? Dass wir die russische Literatur verbrennen?

STANDARD: Wir denken nicht dialektisch?

Nitzberg: Nehmen Sie die Causa Gergiev her. Er ist ein erstrangiger Dirigent und wird vor eine simple Frage gestellt: Er soll ein Lippenbekenntnis leisten, das ihm Zugang zur Arbeit gewährt. Er soll abschwören. Das ist unwürdig und dem konkreten Menschen gegenüber respektlos. Selbst wenn er nicht meiner Meinung ist, muss ich das akzeptieren. Es ist doch klar, dass eine Front mitten durch ihn hindurchläuft. Und mitten durch sein Herz.“

Alexander Nitzberg (52) ist gebürtiger Russe und lebt seit 2010 in Wien. Lyrische Werke, darunter der Suhrkamp-Band Farbenklavier (2012). Zahlreiche Übersetzungen, u.a. von Michail Bulgakow und Boris Sawinkow.

Putin und Judofreunde

Putins Kartell der Macht fußt auf dem Sport. Sein Aufstieg begann beim Judotraining in St. Petersburg – Bis heute hält die Jugendfreundschaft von damals-mit den Rotenberg-Brüdern.

Daniel Germann in NZZ-online 03.03.2022
(Beitrag ausgesucht von Hans Högl)

Bild: Wladimir Putin (immer schön in der Mitte) u. Arkadi Rotenberg 2019. In Sotschi mit russischem Judo-Nationalteam.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1963 in Anatoli Rachlins Sambo Club in St. Petersburg. Auf den Judo-Matten begegnen sich Wladimir Putin und Arkadi Rotenberg. Putin elf Jahre alt, Rotenberg ein Jahr älter. Die beiden hatten die Leidenschaft zu gewinnen, groß zu werden, Geschichte zu schreiben.

The Russian government awarded 46 million rubles (US$688,000) to Granat LLP to direct public discussions and conferences. Granat is entirely owned by Rotenberg according to SPARK, Russia’s corporate database.

A former judo partner of the President, Rosenberg has benefited from Putin’s friendship since he first took office in 2000. In his first year, Putin created Rosspirtprom, a new state body that took over 30 percent of the country’s vodka production, handing Rotenberg full control.
Rotenberg has since built a fortune of $2.4 billion, making him one of Russia’s wealthiest businessman His wealth is largely accumulated through Stroygazmontazh, Russia’s largest oil and gas construction group, co-owned with his brother Boris.