Prof. Karl Schlögel – Historiker und Russland-Experte
Hans Högl
Kürzlich kam ich von der Reise nach Moskau und St. Petersburg zurück und erlebte dieses Land in vielen Punkten sehr überraschend, jedenfalls anders als in der üblichen Mediendarstellung. Da meine Eigenerfahrung punktuell ist, folge ich sinngemäß einer anschaulichen Darstellung von Karl Schlögl, mit der ich mich identifiziere.
Es gibt einen soliden Fundus von Russlandbildern jenseits der tagespolitischen Meldungen. Sie besagen: „Russland besteht nicht nur aus Katastrophen, Havarien, Streiks, Auftragsmorden, demographischem Niedergang. Es gibt ein Russland der großen Ströme, der unermesslichen Weite.“ (p. 182.). Russland, das unermessliche Land, ist das Land der Ungleichzeitigkeit, des Nebeneinanders, Zusammenbrüche stehen neben Boomstädten. Arbeitsmigranten kommen aus Nachbarländern.
Moskau ist die Stadt der 3,4 Millionen Autos. Es gibt einen tosenden, dröhnenden Lärm, der über die Ringe und Boulevards jagenden Autos. Der Automarkt und Autoverkehr explodiert, Supermärkte wachsen in amerikanischem Stil. Das Land hat den Kommunismus längst hinter sich gelassen und ist übergangslos im letzten Stadium des Konsumismus gelandet. (Und es besteht eine ansehnliche Mittelschicht und kleinbürgerliche Mittelständer, auf welche die Oligarchen verächtlich blicken. In den Medien wird die soziale Welt auf Oligarchen und Arme verkürzt. Die Mittelschicht kommt nicht vor. „Mehr als eine Million zur Mittelschicht gehörenden, meist hochqualifizierten Bürgern sind ausgewandert (p. 241 f.).
Es findet sich eine Jugend wie in Berlin und München, die Männer sportlich, die jungen Frauen elegant mit urbaner Gelassenheit. Es fiel in St. Petersburg auf, wie überaus chic sich Frauen kleiden.
Das alte Moskau ist verdeckt von überdimensionalen Baugerüsten und ist verschwunden in einem Wirbel von Abriss und Neubau. Es ist ein neues Moskau entstanden: in allen Farben leuchtend, bebend vor Kraft, die Konzentration des Reichtums und des Macht- und Finanzzentrums.
Verlässt man den Speckgürtel von 50 – 100 km z.B. nach Kimry, am Oberlauf der Wolga, so ist diese Stadt vergangenen Wohlstands mit Jugendstilhäusern und Villen aus Holz, „in einem erschütternden Zustand“ (p. 189 f.). Dieses ehemalige Juwel der russischen Moderne ist nur zwei Stunden von Moskau entfernt und ist „so sehr heruntergekommen und verwüstet, dass einem die Worte fehlen“ (p. 190). Schon 60 Kilometer außerhalb von Großstädten sind die Dörfer leergeblutet, die Infrastrukur zusammengebrochen (p. 227). Die Jungen sind in die Städte gezogen. Es gibt „eine Lebenswelt der Ärmsten und Armen, der Ohnmächtigen und Wehrlosen, der Kranken und Schwachen, von denen wir uns ebenfalls kaum eine Vorstellung machen können (p. 227). Und Korruption ist kein Auswuchs, sondern integraler Bestandteil des gesamten Systems (p. 229).
Wie überall interessieren sich die Massen für sex and crime, die höchsten Auflagen haben nicht mehr schöne Literatur und Samisdat-Autoren von einst, sondern die Bestseller von heute (p. 258 f.).
Es zeigt sich wieder, dass wertvolle Hintergrund-Informationen in Büchern oder in qualitativen Dokumentation gefunden werden können, z.B. in ARTE und 3-sat.
Vgl. Karl Schlögel, Grenzland Europa, München 2013, insbesondere den Abschnitt über Russlandfreunde und –versteher ( p. 177 – 203).