Folgenden Text fand ich in der Neuen Zürcher online Freitag 4.Okt. 2019. Geschildert werden Dörfer an der polnischen Grenze in Ostdeutschland und situative Hintergründe für den Aufstieg der AfD (Hans Högl)
Hier sei mal eine Kneipe gewesen, und da habe es mal einen Laden gegeben. Herr Hoffmann, der Taxifahrer aus Görlitz, deutet immer wieder auf Punkte links und rechts an der Strasse. Er scheint ein sicheres Gespür für die Auflösungserscheinungen sächsischer Dörfer zu haben. Er weiss, welche Höfe leer stehen und welche Restaurantbesitzer die DDR-Toiletten bis heute nicht ausgewechselt haben.
Wir sind auf dem Weg von Görlitz in die Gemeinde Neisseaue, eine Ansammlung versprengter Strassendörfer an der deutsch-polnischen Grenze. Der grösste Ort heisst Zodel und hat etwas mehr als 500 Einwohner, der kleinste ist Emmerichswalde mit 13. Das ganze Gebiet ist mehr Naturreservat als Zivilisation, auf einem Quadratkilometer leben 36 Menschen. Der Ort wirbt damit, die «östlichste Gemeinde Deutschlands» zu sein. Man ist also in einem Raum, der schon fast Polen, aber immer noch Deutschland ist. Bei der Europawahl wählten hier 46,4 Prozent der Menschen die Alternative für Deutschland. Es war ein Rekordwert selbst für Sachsen.
Seit der Wahl ist von einer Spaltung des Landes die Rede. Die Grünen nehmen die westdeutschen Städte ein, die AfD räumt in den ostdeutschen Dörfern ab. In Sachsen und in Brandenburg machte die AfD das beste Ergebnis aller Parteien, in Thüringen das zweitbeste. In allen drei Bundesländern finden im Herbst Wahlen statt, und in Görlitz könnte bereits im Juni der erste AfD-Politiker in Deutschland zum Oberbürgermeister gewählt werden. Der Polizeikommissar Sebastian Wippel liegt nach dem ersten Wahlgang an der Spitze. Seine Plakate hängen in der ganzen Gegend: «Ein Görlitzer. Mit Sicherheit!»
«Wir sind am Arsch der Welt»
Alleen säumen die Strassen, dahinter liegen weite Felder. Menschen ziehen weg, und die Natur arbeitet langsam, aber beharrlich daran, das Gelände zurückzuerobern. Dorfstrukturen wie in Bayern habe es hier nie gegeben, sagt der Taxifahrer Hoffmann. Die Leute hätten nicht auf dem Dorfplatz getratscht, sondern beim Bäcker und über die Zäune hinweg. Wir sind gerade auf der Suche nach dem östlichsten Punkt Deutschlands zwischen Deschka und Zentendorf, da soll eine Art Denkmal stehen. Aber der Taxifahrer Hoffmann verfährt sich schon zum wiederholten Mal. Er chauffiert hauptsächlich kranke Menschen in der Gegend herum, zu Denkmälern fährt er nur selten. Schliesslich hält er vor einem Haus und bittet einen alten Deschkaer einzusteigen, um den Weg zu zeigen.
«Kneipen gibt es keine mehr, Bus weiss ich nicht, wir sind am Arsch der Welt», so fasst der neue Passagier die allgemeine Lage zusammen. Auch einen Laden gebe es in Deschka schon lange nicht mehr, Anfang der neunziger Jahre habe der «Konsum» geschlossen. Einmal in der Woche kommen nun Verkaufswagen vorbei und bringen Brot, Fleisch und Gemüse. Ein Sparkassenbus versorgt die Leute mit Bargeld. Wie hält der Mann es mit der AfD? «Muss nicht sein.» Er sei aber ohnehin nicht zur Wahl gegangen, denn das Wahllokal sei in Zodel gewesen, drei Kilometer entfernt. Früher sei er manchmal zum östlichsten Punkt Deutschlands spaziert, aber seit der Hund gestorben sei, mache er das nicht mehr. Alles scheint bei dem Mann aufs Aufhören angelegt zu sein.
Nur ans Wegziehen denkt er offenbar nicht. Er sei hier aufgewachsen, habe ein Haus gebaut und 44 Jahre lang als Polizist gearbeitet. Jetzt versuche er, so lange es gehe, hierzubleiben. Auch wenn das nicht immer schön sei. Manchmal funktioniere nicht einmal das Festnetz, sagt der alte Polizist. Dieses Jahr hätten Kriminelle schon zweimal Telefonleitungen abgebaut, Hunderte von Metern, nur wegen des Kupfers.
Viel scheint der Mann nicht mehr zu erwarten. Wenn aber jemand käme und ein paar Dinge in Ordnung brächte, hätte er wohl nichts dagegen. Den AfD-Polizisten, der in Görlitz Oberbürgermeister werden will, findet er zum Beispiel sympathisch. Das heisst, er sei zumindest «kein Hirnverbrannter».
Der östlichste Zipfel Deutschlands ist ein seltsames Arrangement. Dazu gehören ein grosser Stein, ein «Zipfel-Buch», in das sich die Gäste eintragen können, ein Häuschen, das wie der Einstieg zu einem Atombunker aussieht, und eine verblichene Deutschlandfahne. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass die Reisegruppe an diesem Punkt besonders berührt sei. Der Taxifahrer Hoffmann nutzt den Halt für eine Rauchpause. Ein bisschen scheint er sich auch Sorgen zu machen um seinen Wagen, denn die Fahrt zum östlichsten Punkt Deutschlands gleicht einer Safari.
Am Ende der Reise stehen die AfD-Politiker Roberto Kuhnert und Heiko Titze an der Dorfstrasse in Zodel. Kuhnert ist selbständiger Baudienstleister und führt die AfD-Regionalgruppe Weisswasser, zu der auch Neisseaue gehört. Titze ist Polizeibeamter im Ruhestand und kommt aus Hähnichen, ein paar Kilometer weiter nördlich von hier. Männer wie Kuhnert und Titze ziehen nun für die AfD in die deutschen Parlamente ein, beide wurden vor einer Woche in den Görlitzer Kreistag gewählt. Das Gespräch findet in der Landbäckerei in Zodel statt, aber ganz wohl ist es den beiden Herren dabei nicht. Kuhnert redet betont leise, doch es nützt nichts. «Da wird es mir ganz übel, wenn ich das höre!», fährt ihn eine Kundin nach wenigen Minuten an. Kuhnert hat gerade berichtet, wie sehr die CDU in Sachsen versagt habe. Wenig später mischt sich eine weitere Frau ein: «Ministerpräsident Kretschmer hat viel bewirkt in der Region!»
54 Prozent wählen in Neisseaue nicht die AfD, daran haben die beiden Damen noch einmal erinnert. Kuhnert diskutiert mit ihnen, bis der Bäcker einschreitet: «Hier muss bedient werden!» Er hätte auch sagen können: «Hier darf nicht politisiert werden!» Der Bäcker fürchtet offenbar um sein Geschäft. In einem Dorf mit 500 Einwohnern kann er es sich nicht leisten, dass AfD-Politiker im Laden die CDU-Kundschaft vertreiben. Solche Szenen wie eben seien eine Ausnahme, sagt Kuhnert später. «Aber manche verteidigen die CDU heute so, wie früher Unverbesserliche die SED verteidigt haben, als es mit der DDR zu Ende ging.» Es sei Zeit für eine «neue Wende», sagt Kuhnert.
«Die Region fühlt sich abgehängt»
Titze ist ein schweigsamer Mann, meistens hat er die Arme verschränkt und die Mundecken leicht nach unten gezogen. Eigentlich wäre er noch immer gern Polizist, wie er sagt. Aber er habe einen Dienstunfall gehabt und danach sieben Operationen. Manchmal setzt er an und will etwas sagen, aber Kuhnert ist schneller. Der AfD-Mann aus Weisswasser gibt gern den Welterklärer. Vor allem aber ist er begeistert von den jüngsten Wahlerfolgen. «Uns wählt der komplette Querschnitt der Gesellschaft», sagt er. Wie zum Beweis fügt Titze hinzu, «mein Hausarzt hat mich auch gewählt». Kuhnert: «Es gibt keine Alternative zur Alternative!» Aber warum wählen gerade in Neisseaue so viele Leute die AfD? «Die Region fühlt sich abgehängt», sagt Kuhnert. «Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist so. Die Industrie siedelt sich mittlerweile in Polen an.»
Das eigene Unglück scheint sich im Erfolg der Polen noch zu vergrössern. Titze sagt: «Die Wirtschaft fehlt, die Jugend zieht weg. Viele Handwerker wollen junge Leute gar nicht mehr ausbilden, weil diese ohnehin in den Westen auswandern.» Für Kuhnert ist das Konzentrat aller Probleme die geringe Kaufkraft. Titze kann das nur bestätigen: «Die Leute können sich ja ein Bier im Gasthaus kaum noch leisten.» Der pure Patriotismus ende beim Portemonnaie, erklärt Kuhnert. Für den Friseur, Zigaretten und zum Tanken fahren viele Deutsche, die im Grenzgebiet leben, nach Polen.
«Man will keine Zustände wie in Berlin»
Eine tragende Rolle für den Erfolg der AfD spiele auch die Flüchtlingskrise, sagt Kuhnert. «Man will hier keine Zustände wie in Berlin.» Aber eigentlich geht es nicht einmal um Berlin, es geht schon um Görlitz und Zwickau. So peripher die Menschen auch leben, viele haben Angst, dass sie ihre Heimat irgendwann nicht mehr erkennen könnten. Titze erzählt, wie er kürzlich durch die Stadt spaziert sei, in der er geboren wurde. In der Einkaufsstrasse von Zwickau sehe es heute aus wie auf einem türkischen Basar. Titze wirkt weniger empört als enttäuscht.
Der Bäcker hört den Neopolitikern mit grimmiger Miene zu. Aber nur wenn keine Kunden im Laden sind. Irgendwann fragt er die AfD-Männer: «Denken Sie tatsächlich, dass die Presse Ihnen hilft?» Er rät ihnen, besser zu schweigen, denn Journalisten würden nur Unsinn verbreiten. «Jetzt haben wir dieselbe Situation wie am 17. Juni 1953», sagt er. «Journalisten kommen zu uns, um Sensationsberichte zu schreiben. Vorher hat sich für den Osten niemand interessiert!» Kuhnert beschwichtigt den Bäcker und macht seine heiser-feine Stimme noch etwas feiner. Der Vergleich der jetzigen politischen Situation mit dem Volksaufstand von 1953 in Berlin scheint niemanden zu wundern. Es sind die Relationen, in denen man hier denkt. Der Kampf gegen die SED wird bald mit dem Kampf gegen die CDU verglichen, der Volksaufstand von 1953 mit der Europawahl von 2019, die politischen Umbrüche der heutigen Zeit mit der Wende von 1989.