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Skandale immer und überall

Der digitale Pranger laut Publizistikprofessor Bernhard Pörksen

Hans Högl: Kontrollverlust.Buch:“Die grosse Gereiztheit“ (Teilrezension Kap. 5)

Das weltweite Netz bietet enorme Chancen für die politische Teilhabe breiter Kreise. Und so kommen Sachverhalte ans Tageslicht, die früher nie beachtet oder tabuisiert wurden. Den traditionellen Redaktionen steht nicht mehr ein homogenes Publikum gegenüber, das sich fallweise in Leserbriefen meldet. Das Netz erlaubt, dass jeder mit Wort und Bild aktiv werden kann. Das einst zur Passivität verdammte Publikum hat an Einfluss gewonnen (S. 159).

Und Pörksen räumt ein:“Es gibt durchaus relevante Enthüllungen von Ungerechtigkeit, Gewalt und Übergriffen, die allein deshalb bekannt werden, weil jemand im richtigen Moment mit seinem Smartphone ein Video dreht und den Film später online stellt“(.S. 178).

Meldungen im Netz können ungeahnte Folgen für Betroffene haben, die in Twitter anscheinend harmlos klingende Infos ins Netz stellen. So schrieb Justine Sacco, eine PR-Managerin aus New York, die nach Afrika flog, auf Twitter: „Hoffentlich bekomme ich kein Aids.Ich mache nur Spaß. Ich bin weiß.“ Ein Journalist entdeckt den Tweet,er hat 15.000 Follower.Tausend Empörte schalten sich ein. Als sie in Südafrika am Flughafen landet, warten schon Fotografen auf sie. Ihren Südafrikaurlaub bricht sie ab, Hotelangestellte würden mit Streik drohen, wenn sie erscheint (S.160f.). Ihr Dienstgeber in New York feuert sie.

Die Folgen von solchen Ereignissen sind Publikumsurteile, ohne dass wie in Gerichten eine Verteidigung möglich ist. Früher entschieden maßgebliche Redakteure, ob ein Fall z.B. von Korruption und dergleichen aufgegriffen wurde.

Diese neue digitale Situation nennt der Autor die fünfte Gewalt. Sie betrifft nicht nur Prominente, sondern auch unbekannte, harmlose Menschen (S.159). Erst im Nachhinein, auf Basis einer gründlichen Analyse von Einzelfällen, lässt sich das Ausmaß von unbedachten Twitter- und Facebook-Meldungen erahnen. Und es tut nichts zur Sache, wenn das Buch vor ein paar Jahren, nämlich 2018 erschien. Und wer Falschmeldungen korrigiert, provoziert dadurch besonderes Interesse. Es gibt kaum eine effektive Rechtfertigung.

„Zum anderen arbeiten auch klassische Medien mit Pseudo-Aufregern, Prangermethoden und frei erfundenen Geschichten, die Klickzahlrekorde, Auflage und Quote versprechen.“ Im Furor der Skandalisierung geht auch im Journalismus die Orientierung an einem Ethos der Aufklärung verloren (S.178).

Im September 2015 verbreitete das britische Boulevardblatt „Daily Mail“ die Geschichte, der damalige Premierminister habe während der Initiationszeremonie des Männerclubs Piers Gaveston Society „eine obszöne Handlung mit dem Kopf eines Schweines vollzogen“ und „einen intimen Körperteil in das Tier eingeführt“ (S.179). Ein paar Tage nach der Veröffentlichung stellte die verantwortliche Daily-Mail-Reporterin Isabel Oakeshott klar: „Sie wisse auch nicht, ob diese Geschichte stimme, aber sie sei nun mal im Umlauf. Die Leute müssen selbst entscheiden, ob sie der Sache Glauben schenken oder nicht, so meinte sie, nach Belegen gefragt.“ (S.179).

NB. -Und jetzt behaupte noch wer, das Publizistikstudium sei unnötig. Leider schleifen sich in der Praxis des journalistischen Berufes auch bedenkliche Verhaltensweisen ein, die selten so extrem sind. Und der Wiener Essayist Franz Schuh betonte kürzlich in der „Wiener Zeitung“ (22.6.22):“Es hat mir nichts auf der Welt ein solches wunderbares Leben ermöglicht, wie der Computer. Das sei ein unfassbarer Fortschritt für einen Schreiber.“