Schlagwort-Archive: Gorbatschow

Liebesgrüße aus Moskau?

Russlandbezogene Auszüge aus dem Buch: Löw, Raimund (2022 April): Welt in Bewegung. Warum das 21.Jahrhundert so gefährlich geworden ist. Falter Verlag.224 Seiten. Der Autor des Buches übermittelt keine Liebesgrüße aus Moskau

Hans Högl

Die Aussagen von Raimund Löw „Welt in Bewegung“ (2022) über Stalins Russland und die Ukraine sind in ihrer Klarheit und ihren Positionen bemerkenswert. Raimund Löw war in Moskau ORF-Korrespondent. Seine Darlegungen sind tatsachen- und nicht ideologiebetont.

Raimund Löws Aussagen – in Auszügen und kurz gefasst:

Große Teile der Linken weltweit haben die Verbrechen des Stalinismus „beschönigt oder verdrängt“. Stalin hat die emanzipatorische Grundidee des Sozialismus erschüttert. 2021 löste das russische Höchstgericht die Menschenrechtsorganisation Memorial auf, die seit den Anfängen von Glasnost die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus hochgehalten hat (p.24 f.).

Als Stalin starb weinten Millionen. „Ohne den Glauben an Stalin wäre der Widerstand gegen Hitler unmöglich gewesen“. Die Nachfolger Stalins haben während Jahrzehnten die halbe Welt bewaffnet und ernährt, und das trug zum Untergang der Sowjetunion bei. – Die Sowjets marschieren 1979 in Afghanistan ein, um die regierenden Kommunisten in Kabul zu retten. Mit sowjetischer Hilfe wurde Fidel Castros Kuba ernährt, Millionenwerte flossen an Entwicklungshilfe und Rüstungsgüter nach Äthiopien, Angola, Somalia, Vietnam, Syrien, Ägypten und Irak. Der riesige Moloch der sowjetischen Rüstungsindustrie brachte die wirtschaftliche Entwicklung zum Erliegen.

Gorbatschow hatte den Traum der demokratischen Reform von Kommunismus und Planwirtschaft. Darüber kann man sich mokieren. Aber er war es, der die im Stalinismus wurzelnde Angst vor Partei, Staat und Polizei genommen hat. Im ersten Volkskongress mit freien Wahlen schleuderte Andrej Sacharow ohne jede Zensur Anklagen gegen KGB und Partei und Stalinismus und Diktatur in den Raum (p.25).

Der russische Anwalt Sergej Magnitski deckte Korruptionsfälle in höchsten Moskauer Regierungskreisen über 230 Millionen Dollar auf und bezahlte dies mit seinem Leben (p. 29).

Zu Putins Plan für eine neue Sowjetunion ohne Sozialismus (p. 31-33). Raimund Löw: Es wird ein Angebot geben müssen, wie die feindseligen Machtblöcke ihre Einflussgebiete abstecken. Der Außenpolitikexperte Zb. Brzezinski, einst Sicherheitsberater von Jimmy Carter, schlägt einen an das neutrale Finnland angelehnten Status für die Ukraine vor (p 32.).

Der von Kiew gewünscht Beitritt zur Nato wird von Frankreich und Deutschland verhindert, weil man das Verhältnis zu Russland nicht zusätzlich belasten will. Aber der Kreml findet kein tragbares Verhältnis zur ukrainischen Souveränität (p. 33).

Kapitalismus Problem oder Lösung ?

Die Rolle der Marktwirtschaft und die Armutsbekämpfung ist Thema eines jüngst erschienenen Buches. Als Beispiele werden darin die Entwicklung der Volkswirtschaften Polens und Vietnams angeführt.

Hans Högl: Buchrezension

Rainer Zitelmann (2023): Der Aufstieg des Drachen und des Weissen Adlers. Wie Nationen der Armut entkommen. München. Finanzbuch-Verlag (FBV). Mit Anmerkungen, Personenregister und Literaturverzeichnis, 208 Seiten.

Die Positionen des Autors sind ein Gegenpol zu den in Medien (so im ORF) häufig geforderten staatlichen Eingriffen und Hilfen. Und da tönt es in Medien scheinbar (?) unwillkürlich immer wieder: der Staat möge Probleme lösen. In diesem öffentlichen Diskurs fehlt der Appell zur Selbsthilfe.

Zu meiner Position als Rezensent: Ich bin für das Prinzip der Subsidiarität, befürworte freien Markt u n d bin für adäquate Sozialleistungen des Staates, vertrete also „soziale Marktwirtschaft“, ein Wort, das in Zitelmanns Buch offenbar fehlt. Im besten Fall ist es implizit gegeben im Lob des deutschen Kanzlers Ludwig Erhard.

Zitelmanns Hauptthese ist: Nur eine Gesellschaft, die Reichtum zulässt und Reichtum positiv sieht, kann Armut überwinden (S. 5). Nach den Siegen über die Franzosen und Amerikaner sollte ab 1975 in ganz Vietnam die Landwirtschaft kollektiviert werden (99 f.), obwohl dies in China und in der UdSSR gescheitert war. Die Vietnamesen begannen 1986 mit marktwirtschaftlichen Reformen, wenige Jahre später die Polen.

In beiden Ländern ist heute der Widerstand gegen freie Markwirtschaft viel geringer als in traditionell wirtschaftsliberalen Ländern. Dies belegt der Autor in weltweiten Umfragen (S. 73-91, 156 -173). Finde ein möglichst rascher Übergang von einer Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft statt, seien Widerstände gegen die Transformation geringer. Und die Leute würden bei einem Radikalwandel das Spezifikum einer freien Marktwirtschaft besser erfassen als bei einem graduellen Übergang. Dies zur Ansicht von Rainer Zitelmann.

Positives: Beeindruckend ist der Vergleich der beiden heutigen Volkswirtschaften: Polen und Vietnam. Bei einer kürzlichen Fahrt quer durch Polen staunte nicht nur ich, sondern auch Verwandte aus Schweden, über die wirtschaftlich breite Entwicklung in Polen, auch wenn dies nur rasche Eindrücke waren. In Polen kam es im Sozialismus immer wieder zu Protesten und Arbeitsniederlegungen und zur Bildung einer freien Gewerkschaft, eigentlich ein Unding in einem sozialistischen Staat.

Zitelmann ist für Marktradikalismus, also für „Neo-Liberalismus“. Seine Vorbilder sind u.a. Margaret Thatcher, Ronald Reagan. Kein Wort findet sich bei Zitelmann (es war auch nicht sein Hauptaugenmerk) auf die misslungen Privatisierungen von Margaret Thatcher – im Gesundheits- und Verkehrswesen.

Zur Radikalkur in Osteuropa. Menschen waren nach der Transformation „offiziell“ arbeitslos (de facto waren sie es bereits früher), und die älteren Menschen darbten mit Minimalpensionen. Das übersieht Zitelmann. Meist fehlten Fachleute für die Gestaltung des freien Marktes (Polen hatte zum Glück L. Balcerowicz als Finanzminister S. 6., 52). Bei langsamem Übergang blieben oft Altkommunisten an der Macht.

Michael Gorbatschow gesteht ein, es hätte für die Transformation der riesigen Planwirtschaft wie der Sowjetunion Jahre gebraucht. Das wurde unterschätzt. Folgendes fehlt bei Zitelmann: Vorgesehen war in Russland die Ausgabe von Volksaktien an Belegschaften, doch gewitzte Personen kauften den Leuten die Aktien spottbillig ab, die Arbeiter wußten nicht um deren Wert und wurden dafür mit ein paar Flaschen Wodka abgespeist (so dargestellt im Kultursender ARTE), dies wurde Kapital für die Oligarchen in Russland. Ob das im Sinne von Zitelmann wünschenswert war?

„Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“,schreibt Zitelmann (S.15): Ausgerechnet das partiell kommunistische China trug viel dazu bei, extreme Massenarmut zu mindern: Ein pragmatischer KP-Führer sah ein, es sei wichtig, die Wirtschaft aus Fesseln zu befreien, wobei die KP die Gesamt-Macht nicht abgegeben hat.

Zitelmann vertritt die Ansicht: Wer hilft, schadet. Wir lesen nichts bei ihm über den Marshall-Plan für Europa, der uns auf die Beine geholfen hat. Sehr ausführlich geht er auf die bittere Bilanz der Entwicklungshilfe ein und übersieht in der Kritik der Projekte, dass Unsummen an Finanzhilfen an korrupte einheimische Eliten überwiesen wurden, die viel eher Eigen-Reichtum als den Wohlstand ihrer Länder im Auge hatten, also eben dies taten, was Zitelmann so wünschenswert hält…

Das Buch ist dennoch anregend, die Lektüre lohnt und bietet unbekannte Details und so eine wirtschaftliche Länderkunde Polens und Vietnams, zwei Staaten, die sich der Planwirtschaft entwunden haben. Vietnam musste sich in der langen Geschichte gegen fremde Eindringlinge zur Wehr setzen – gegen Chinesen, Mongolen, Japanern, Franzosen und Amerikanern (S. 97)

Russische Geschichte

Zeitgeschichte bis in die Ära Putins

Hans Högl

Ein guter Bekannter machte mich auf das Buch „Russische Geschichte“ von Manfred Alexander aufmerksam, das ursprünglich von Günther Stökl verfasst wurde (Kröner Verlag, Stuttgart 2018, mit Personen-, Orts-u.Sachregister, 924 Seiten !). Ich habe die Periode ab Gorbatschow bis in die Ära Putins genau gelesen und kann mich der folgenden Rezension nur voll anschließen:

Diese verlässliche und äußerst anschaulich geschriebene Darstellung rekapituliert die ereignisreiche russische Geschichte, die seit dem Zerfall der Sowjetunion und den Entwicklungen im Russland der letzten Jahre sehr an Aktualität gewonnen hat. Für die nun vorliegende 7. Auflage hat Manfred Alexander (Univ.Prof.u. Spezialist für Osteuropa) den gesamten Text gründlich überarbeitet, auf den neuesten Stand der Forschung gebracht und bis in die Ära Putin hinein fortgeschrieben.