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Aschenbrödel-Info: Über 100 Millionen Arme in der EU!

In einer Zeitung muss man alles lesen. Auch das Kleinste. Das schrieb der französische Präsident De Gaulle. Hier ein eklatanter Fall: Eine niedliche Kurzinfo über extrem Folgenreiches.

Hans Högl

Ich schätze die „Wiener Zeitung“, aber etwas war heute ärgerlich. Sehr. Ein kritischer Blick auf ihre Gestaltung, auf das Layout. Von US-Präsidentschaftskandidat Sanders handelt ein umfangreicher Bericht mit fünf großen Spalten und parallel dazu ein großes Foto. Sanders kämpft um seine letzte Chance. Das ist recht wichtig für die US-Amerikaner. Dann darunter: Die Tumulte im Hongkonger Parlament. Das ist recht wichtig für Hongkong! Auch diesen dreispaltigen Bericht unterstreicht ein Foto. Der Text zählt 43 Zeilen und ist wie folgender auf Seite fünf.

Dagegen ist ein für uns Europäer äußerst wichtiger Text winzig! Er hat nicht 43 Zeilen, sondern 12, also rund ein Viertel des Hongkong-Berichtes. Worum geht es? Auf 12 winzigen Zeilen und als völlig nebensächlich im Layout (ganz rechts unten) in der Rubrik „Kurz notiert“ auf Seite fünf heißt es mit einem niedlichen kleinen Titel: „Armut in der EU sinkt“.

Und dann geht aus dem völlig beiläufig platzierten Text hervor: Im Vorjahr waren 109,2 Millionen Menschen oder 21,7 Prozent (also jeder fünfte Mensch in der EU) von Armut betroffen. Und es gibt sogar einen Rückgang um 0,8 Prozent (das sind 2,7 Mio Menschen. Laut einer Eurostat-Aussendung war weiterhin Bulgarien mit 32,8 Prozent negativer Spitzenreiter. D.h. jede dritte Person in Bulgarien ist arm. Und das faßt die „Wiener Zeitung“ (17. Okt.) unter dem Titel „Armut in der EU sinkt“ zusammen. Es ist ein peinliches Eingeständnis, dass in der EU riesige soziale Probleme bestehen, die möglichst wenig bewusst werden sollen.

Nicht zufällig verachten Medienpraktiker das Publizistikstudium. Das hat gute Gründe. Eine wissenschaftliche Analyse schärfte meinen Blick für Irreführungen durch Medien. Dies war die Textanalyse in meiner Dissertation über die „Pentagon Papiere“ zum Vietnam-Krieg: Ich verglich dazu „Le Monde“ mit der „Frankfurter Allgemeinen“. So entdecke ich leichter inhaltliche Verzerrungen, aber auch Leser werden das bemerken. Keine Frage: Der euphemistische Titel „Armut in der EU sinkt“ soll so wenig wie möglich gelesen werden! Es gilt die Schliche der Chefredakteure zu durchschauen.

Literarische Total-Kritik der Medienwelt

Es ist so, als ob wir die geheimen Gedanken und Strategien der Chefredakteure und Herausgeber von „Massen“-Medien erfahren: Und dies beiläufig in Thomas Sautners Roman „Fremdes Land“. Es ist eine fundamentale, literarische , also keine wissenschaftliche Medienkritik – vor allem an den am weitest verbreiteten Medien – wie an vielen Fernsehsendern, am Boulevard, an schreiend farbigen Magazinen. Die Rezension des Romans boten wir bereits im letzten Blog.

Hans Högl: Text aus Thomas Sautners Roman „Fremdes Land“ S. 66 f. :

„Diesmal war tatsächlich Ruhe. Und das in einer Branche, die in den letzten Jahrzehnten herabgesunken war zum Lieferanten billigsten Zeitvertreibs. Alles andere, lenkten die Medienleute von ihrer Unzulänglichkeit ab, ziele an den Bedürfnissen der Konsumenten vorbei, gehe ins Leere. Die Konsumenten hätten Alltagsprobleme genug: Sorgen um Heim und Kinder, Ärger im Job, die üblichen kleinen Unzufriedenheiten und Streitereien, das tägliche Gegeneinander.

Da bleibe kein Platz für intellektuell Forderndes, für Kontroverses, für Analytisches. Das Leben der Menschen orientiere sich nun einmal an einem Horizont, der von Tag zu Tag reiche. Entsprechend kurzweilig gelte es das Medienprogramm zu gestalten. Was die Leute demnach wollten, waren Reality-Shows bar jeder Realität, waren Prominente inklusive ihrer Schicksalsschläge und Skandälchen, waren Kino, Kosmetik, Kurzurlaub. Gurusendungen und Horoskop, durchmischt mit Wetter. Glücksspiele, Astro-Tipps und Rätsel. Harter Sport und putzige Tiere. Das war Vielfalt genug. Daraus bestand das Leben der meisten Menschen, der Stoff, aus dem ihre Träume und Sehnsüchte gemacht waren – und gemacht werden konnten. Anderes wünschten sie nicht. Weitreichendes überforderte sie. Das Große und Ganze ebenso wie tiefere Zusammenhänge. Oder gar die Idee des leitenden Gedankens.

Hand in Hand ging die Medienarbeit mit dem Bestreben der Wirtschaft, ihre Marken für die Menschen unverzichtbar zu machen“……

NB. Hans Högl: In dieser Kritik sind wohl nicht gemeint jene qualitativen Medien, die es auch gibt; aber deren Reichweite bestenfalls jeden Zehnten erreichen. Österreichs Qualitätszeitungen erreichen in etwa jeden Zwanzigsten (4 – 6 %!). ARTE erreicht 1 %, 3-sat ca. 2-3%, Radio Ö 1 bestenfalls 10 %.

Chips versus Demokratie

Für jene, die sich für digitale und neue Medien und Politik interessieren, ist der Roman des österreichischen Autors Thomas Sautner: Fremdes Land (Berlin 2012) ein Muss, und er ist spannend bis zur letzten Seite (Hans Högl)

In Sautners Roman setzt der technologisch hochentwickelte Staat die ihm zur Verfügung stehenden Informationen aus ausgeklügelten Überwachungsapparaten nicht nur ein, um nachträglich Gesetzesverstöße zu ahnden oder geheimdienstliches Wissen zu gewinnen, sondern er nutzt sie darüber hinaus, um deviantes Verhalten von vornherein zu verhindern. Diese präventive Strategie soll durch die Einpflanzung eines „Fit&Secure-Chips“ in die Schläfen der Bürger perfektioniert werden. So sollen nicht nur gefährliche Gedanken und abweichende Ideen rechtzeitig erkannt werden, sodass die betreffenden Personen aus dem Verkehr gezogen werden können, es soll sogar möglich sein, ihre Gedankengänge im Sinne des Staates positiv zu beeinflussen und sie zu vorbildlichen Staatsbürgern, Arbeitskräften und Konsumenten zu erziehen. Das Individuum soll auf diese Weise – zu seinem eigenen und zum Wohle der Allgemeinheit, und mit seinem Einverständnis – entmündigt werden.

„Ich habe den Traum, dass ich (…) es besser mache für das Land und die Menschen,“ erklärt Jack zu Beginn des Romans seiner skeptischen Schwester Gwendolyn, die – selbstverständlich ohne sein Wissen – im Widerstand aktiv ist. Doch tatsächlich, so muss er sich eingestehen, wollte er es keineswegs „für das Land und seine Menschen besser (…) machen. Sein Traum war: zu jener Handvoll Menschen gehören, die das Land regieren.“ Dieser unbedingte Wille zur Macht auch um den Preis der Selbstverleugnung und der Verabschiedung der eigenen Ideale zeichnet Jack aus und führt ihn letztlich zum Erfolg. Als Stabschef der neuen Regierung wähnt er sich an den Hebeln der Macht. In Wahrheit aber wird er zur Spielfigur in einem System, das den Einzelnen nur mehr in seiner Rolle als Konsumenten ernst nimmt. Die Politik ist längst abhängig von der Wirtschaft, eine Marionette der fünf großen Konzerne, die den Weltmarkt beherrschen. Um mit maximaler Effizienz und Kapazität arbeiten zu können, instrumentalisieren sie Regierung und Presse. Das Geld regiert die Welt.

Für die Rezension des Dystopie-Romanes übernahm ich Texte von Literaturhaus.net

Lob für den Kultur- und Informations-Spartensender ORF III

Hans Högl

Der TV-Sparten-Sender ORF III verdient, positiv hervorgehoben zu werden; denn er bietet eine Fülle, ja fast eine Überfülle von wertvollen Dokumentationen – so über Österreichs Kultur, Politik, Geschichte und über Europa. Manchmal würde man gern im Vorhinein in Printmedien ein wenig mehr erfahren, was in etwa der Inhalt der Filme und Reportagen ist.

Ich sah vor meiner Burgundreise den Film über Kaiser Maximilian und über seine Heirat mit Maria von Burgund.Der Geschichtsunterricht wäre wohl überfordert, abgesehen von der europäischen Bedeutung dieser Heirat – Näheres über die politischen Hintergründe dieser Vermählung zu vermitteln. Der Film veranschaulichte, welche Spannungen diese Heirat mit den Stadtherren in den Niederlanden auslöste und verwies auf die diplomatische Verwicklungen und führte zu einem Krieg mit Frankreich, das ebenso den Burgund für sich beanspruchte. Für mich blieb vorerst unbeantwortet, ob und inwiefern der Spielfilm auch den historischen Tatsachen entsprach. Das wäre vielleicht als Vor- oder Nachwort wünschenswert.

Am Samstag, den 12. Oktober 2019 Nachmittag, war die oberösterreichische Region Mühlviertel im Blick. Diese gilt wie das niederösterreichische Waldviertel als wirtschaftliche Randzone, angrenzend an Böhmen. Die ORF III Sendung brachte mutmachende wirtschaftliche Initiativen aus dieser durch Granit geprägten Landschaft – über Biolandwirtschaft, Hopfenanbau, Leinenweberei….Er zeigte, wie Menschen durch Kreativität selbst in Regionen mit wenig Industrie ihr Überleben sichern. Das war konstruktiver Journalismus im besten Sinne.

Ein Hinweise für unsere deutschen Leser: Das Mühlviertel ist zumindest geologisch dem Bayerischen Wald und dem niederösterreichischen Waldviertel ähnlich. Die Bezeichnung Waldviertel ist insofern irreführend, als es neben Wäldern auch Feldwirtschaft und Wiesen gibt.

Zivilgesellschaft (NGOs) unter Druck

Hans Högl. Originalbericht

Wien, 9. Oktober. Im Rahmen der „Gesellschaft für politische Bildung“ referierte Gudrun Rabussay-Schwald von Amnesty International (= AI) zum Thema „Zivilgesellschaft unter Druck- wieviel Spielraum bleibt uns noch?“ Ort: Bezirksmuseum Hietzing Wien 13.

Wie gehen Organisationen mit steigendem Druck und Diskriminierung („NGO-Wahnsinn…) um)? Die Referentin sieht seit 2016 weltweit einen sich verengenden Spielraum. Das EU-Parlament nennt dies „Shrinking Space“. Doch die Europäische Menschenrechtskonvention ermöglicht Verstöße gegen Menschenrechte einzuklagen. In letzter Zeit mache sich ein „Chilling Effekt“ bemerkbar, also eine Abkühlung von Engagement. Menschen sind bedroht in ihrer Sicherheit, es gibt Morde, Folter, Missbrauch, Verleumdung, Diskriminierung, Landraub. 2013 wehrte sich Edgar Snowden gegen die Massenüberwachung. Die Referentin führte das Profiling in China an, die geplante Überwachung des riesigen Volkes in einem 1.000 Punktesystem, wobei auch kleine Übertretungen mit Personen (Gesichts)-Erkennung protokolliert werden.

AI hält fast jeden Schultag in Österreich einen Vortrag. Es kommt vor, dass diese abgesagt werden. Es ergibt sich eine Relation von rund 200 gehaltenen Vorträgen zu fünf abgelehnten. Aber über solch` abglehnte spreche man eben…

Für AI sind Verstöße gegen Menschenrechte im Blick: solche gegen Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Schutz des Eigentums und auf Privatheit, Bewegungsfreiheit, Recht auf Arbeit…
Im Publikumsgespräch wurde auf Menschen-Pflichten hingewiesen. Das Asylrecht ist universell, doch manche Rechte gelten kontextuell. Bewegungsfreiheit meint Freiheit, sich innerhalb e i n e s Staates niederzulassen, also nicht weltweite Niederlassungsfreiheit.Doch die europäischen Bürger haben die Freiheit, innerhalb der EU arbeiten und leben zu dürfen. Analog kann im Sinne der Menschenrechte nicht jeder Mensch Wohnung und Arbeit konkret einfordern. Hintergrund der Frage war die hohe Arbeitslosigkeit Jugendlicher in Italien und Spanien.

Großes Lob für die Sendung über den Zölibat im ORF

Hans und Eveline Högl

Die Sendung „kreuz und quer“ (ORF 2) griff gestern das Thema „Zölibat“ in der katholischen Kirche auf. Dem Team der Religionsabteilung ist außerordentlich zu gratulieren für die informative und faire und kritische Gestaltung.

Zum einen erläuterte die Sendung den Sinn des Zölibats als Ganzhingabe durch eine Ordensschwester und durch einen Priester und auch die differenzierte Praxis in der Ostkirche. Sie korrigierte auch das gängige Vorurteil, als wäre die Zölibatsregelung unumstößlich und zeigte aus dem Amt geschiedene und glücklich verheiratete Priester. Und dies alles mit Empathie.

Auch die Affäre des bekannten „Pfarrer Jantsch“ aus der Hinterbrühl wurde ungeschönt präsentiert und doch mit Anteilnahme. Es wurde deutlich, wie paradox die Lebenspraxis von einem Priester sein kann, ganz anders als vom Amt in der Katholischen Kirche vorgesehen und im Widerspruch zu Sexual- und Ehenormen. Eklatant Maskenhaftes und Verwirrendes kam zum Vorschein, so in der inszenierten Gewandtheit der Geliebten des Pfarrers, einer Ehefrau. Wichtig ist, dass diese Sendung von einem ORF-Team gestaltet wird – und zwar unabhängig vom kirchlichen Amt.

Es müssen noch viele Mauern fallen. Mauerfall 1989

Österreichs Medien berichten über Tschechien, wenn ihr Ministerpräsident einen Skandal hat. Über die Lebenssituation der Menschen des Nachbarlandes erfahren wir kaum etwas.

Hans Högl. Reportage

Eine Tagesexkursion führte unsere Gruppe nach Mähren. Gleich nach der österreichischen Grenze fallen die riesigen landwirtschaftlichen Flächen auf. Sie sind gut bestellt, nicht vernachlässigt wie ich dies in der Westukraine nahe eines Dorfes erlebte mit dem netten Namen übersetzt auf Deutsch „Gute-Nacht-Dorf“. Nein – die Felder in Mähren erscheinen gut bestellt.

Dem Kern meines Gesprächs mit dem Reiseleiter, einem Österreicher mit tschechischen Wurzeln, schicke ich eine andere Stellungnahme voraus. Er sagte, dass die Bauern unter den Kommunisten oft gar nicht so unzufrieden waren. Sie hatten meist ein bißchen Grund und Boden und konnten sich selbst versorgen. Um marxistische Theorien kümmerten sie sich nicht. Aber so unzufrieden waren sie nicht, sie hatten sichere Arbeitsplätze. Ähnliches erfuhr ich in Gesprächen in Bulgarien mit dem Hinweis, dass die Periode nach der Wende „furchtbar schwierig war“ (Vgl. früheren Blog).

Zu meiner Bemerkung zum Reiseleiter: „Eigentlich erfahren wir über Medien von Tschechien nur dann etwas, wenn sich ihr Ministerpräsident etwas zu Schulden kommen lässt.“ Der Reiseleiter: „Nein, so ist es nicht so. In der Zeitschrift Respekt findet man Beiträge über die Lebenssituation in Böhmen und Mähren.“ Leider: Die Zeitschrift „Respekt“ ist tschechisch geschrieben. Davon sind keine Berichte in maßgeblichen Medien Österreichs, vielleicht in Spezialmagazinen. Die Begleiterin des Reiseleiters pflichtet mir indirekt bei und sagt. Bei einer Begegnung ihrer österreichischen Schule mit einer ungarischen staunte sie nicht wenig, dass das ungarische Schulsystem ein völlig anderes ist. „Und wir in Österreich haben keine Ahnung davon, obwohl wir nur 50 km davon entfernt sind.“

Zurück zum Thema der überdimensional großen Feldern in Mähren. Dazu sagte mit bedrückter Stimme der Reiseleiter: „Das ist eine traurige Geschichte. Nach der Wende gab es die Coupon-Wirtschaft. Den ehemaligen Bauern wurden Papiere, Aktien, angeboten. Sie verstanden nicht, worum es sich handelte oder waren ihrer Landwirtschaft durch die lange Periode des Kommunismus entfremdet oder sahen sich nicht imstande, landwirtschaftliche Maschinen anzuschaffen. Und so kamen die Felder in die Hände von Oligarchen. Oder sie gehören den Banken“. Also an Personen, die den Kommunisten nahestanden oder waren. Sie rissen sich die Felder unter die Nägel. Ähnliches berichtete ARTE über die Ex-Sowjetunion: Den Arbeiter von großen Fabriken wurde nach der Wende Aktien angeboten. Gewiefte Manager gaben den Arbeitern zwei Flaschen Wodka und übertölpelten die Werktätigen. Und so kamen die Fabriken in die Hände von Oligarchen.

In Tschechien haben wir nun den Typus von Großgrundbesitzer. Kritik bei uns trifft aber die fernen Großgrundbesitzer Lateinamerikas. Wir und unsere Medien haben den Mauerfall mental noch nicht verarbeitet und tragen in unseren Köpfen Grenzbalken.

Der Durst des Oppositionspolitikers

Matthias Strolz gründete die liberale Partei „Neos“. Als Ex-Politiker gab er einer Journalistin der Monatszeitschrift „Datum“ ein Interview und traf überraschende Bonmots (Hans Högl)

Aussagen von Matthias Strolz:

„Es gibt ein bis zwei Wochen im Jahr, in denen ich das Handy abschalte. Mit einer Art Notfallerreichbarkeitskette“.

„Frauen sind für mich nahe am Gottesbeweis“.

Als Oppositionsführer ist die Leitfrage“: Was kritisiere ich heute? Das tut mir nicht gut.“

NB. Diesen Eindruck bloßer Negativität erweckt auch Tagesjournalismus. Wenngleich konstruktiver Journalismus bekannt ist. Wie steht dies mit dem ORF-Spitzenmann Armin Wolf – trotz all` seiner Verdienste?

Die österreichische Monatszeitschrift „Datum“ bringt stilistisch hervorragende Reportagen mit Seltenheitscharakter -z.B. im Oktober: „Zehn Jahre Uni brennt“/ Zum Tierwohl – Was schulden wir dem Schwein?/ Wo das Glück wohnt. Finnland soll das glücklichste Land der Welt sein. Warum? / Künstliche Intelligenz führt den Krieg von morgen / Wie drei Bürgerrechtler gegen die Einschränkung unserer Freiheit kämpfen (aus Budapest, Linz, Warschau)..

Sächsische Dörfer an polnischer Grenze und AfD

Folgenden Text fand ich in der Neuen Zürcher online Freitag 4.Okt. 2019. Geschildert werden Dörfer an der polnischen Grenze in Ostdeutschland und situative Hintergründe für den Aufstieg der AfD (Hans Högl)

Hier sei mal eine Kneipe gewesen, und da habe es mal einen Laden gegeben. Herr Hoffmann, der Taxifahrer aus Görlitz, deutet immer wieder auf Punkte links und rechts an der Strasse. Er scheint ein sicheres Gespür für die Auflösungserscheinungen sächsischer Dörfer zu haben. Er weiss, welche Höfe leer stehen und welche Restaurantbesitzer die DDR-Toiletten bis heute nicht ausgewechselt haben. 

Wir sind auf dem Weg von Görlitz in die Gemeinde Neisseaue, eine Ansammlung versprengter Strassendörfer an der deutsch-polnischen Grenze. Der grösste Ort heisst Zodel und hat etwas mehr als 500 Einwohner, der kleinste ist Emmerichswalde mit 13. Das ganze Gebiet ist mehr Naturreservat als Zivilisation, auf einem Quadratkilometer leben 36 Menschen. Der Ort wirbt damit, die «östlichste Gemeinde Deutschlands» zu sein. Man ist also in einem Raum, der schon fast Polen, aber immer noch Deutschland ist. Bei der Europawahl wählten hier 46,4 Prozent der Menschen die Alternative für Deutschland. Es war ein Rekordwert selbst für Sachsen.
Seit der Wahl ist von einer Spaltung des Landes die Rede. Die Grünen nehmen die westdeutschen Städte ein, die AfD räumt in den ostdeutschen Dörfern ab. In Sachsen und in Brandenburg machte die AfD das beste Ergebnis aller Parteien, in Thüringen das zweitbeste. In allen drei Bundesländern finden im Herbst Wahlen statt, und in Görlitz könnte bereits im Juni der erste AfD-Politiker in Deutschland zum Oberbürgermeister gewählt werden. Der Polizeikommissar Sebastian Wippel liegt nach dem ersten Wahlgang an der Spitze. Seine Plakate hängen in der ganzen Gegend: «Ein Görlitzer. Mit Sicherheit!»

«Wir sind am Arsch der Welt»
Alleen säumen die Strassen, dahinter liegen weite Felder. Menschen ziehen weg, und die Natur arbeitet langsam, aber beharrlich daran, das Gelände zurückzuerobern. Dorfstrukturen wie in Bayern habe es hier nie gegeben, sagt der Taxifahrer Hoffmann. Die Leute hätten nicht auf dem Dorfplatz getratscht, sondern beim Bäcker und über die Zäune hinweg. Wir sind gerade auf der Suche nach dem östlichsten Punkt Deutschlands zwischen Deschka und Zentendorf, da soll eine Art Denkmal stehen. Aber der Taxifahrer Hoffmann verfährt sich schon zum wiederholten Mal. Er chauffiert hauptsächlich kranke Menschen in der Gegend herum, zu Denkmälern fährt er nur selten. Schliesslich hält er vor einem Haus und bittet einen alten Deschkaer einzusteigen, um den Weg zu zeigen.

«Kneipen gibt es keine mehr, Bus weiss ich nicht, wir sind am Arsch der Welt», so fasst der neue Passagier die allgemeine Lage zusammen. Auch einen Laden gebe es in Deschka schon lange nicht mehr, Anfang der neunziger Jahre habe der «Konsum» geschlossen. Einmal in der Woche kommen nun Verkaufswagen vorbei und bringen Brot, Fleisch und Gemüse. Ein Sparkassenbus versorgt die Leute mit Bargeld. Wie hält der Mann es mit der AfD? «Muss nicht sein.» Er sei aber ohnehin nicht zur Wahl gegangen, denn das Wahllokal sei in Zodel gewesen, drei Kilometer entfernt. Früher sei er manchmal zum östlichsten Punkt Deutschlands spaziert, aber seit der Hund gestorben sei, mache er das nicht mehr. Alles scheint bei dem Mann aufs Aufhören angelegt zu sein.

Nur ans Wegziehen denkt er offenbar nicht. Er sei hier aufgewachsen, habe ein Haus gebaut und 44 Jahre lang als Polizist gearbeitet. Jetzt versuche er, so lange es gehe, hierzubleiben. Auch wenn das nicht immer schön sei. Manchmal funktioniere nicht einmal das Festnetz, sagt der alte Polizist. Dieses Jahr hätten Kriminelle schon zweimal Telefonleitungen abgebaut, Hunderte von Metern, nur wegen des Kupfers. 
Viel scheint der Mann nicht mehr zu erwarten. Wenn aber jemand käme und ein paar Dinge in Ordnung brächte, hätte er wohl nichts dagegen. Den AfD-Polizisten, der in Görlitz Oberbürgermeister werden will, findet er zum Beispiel sympathisch. Das heisst, er sei zumindest «kein Hirnverbrannter».

Der östlichste Zipfel Deutschlands ist ein seltsames Arrangement. Dazu gehören ein grosser Stein, ein «Zipfel-Buch», in das sich die Gäste eintragen können, ein Häuschen, das wie der Einstieg zu einem Atombunker aussieht, und eine verblichene Deutschlandfahne. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass die Reisegruppe an diesem Punkt besonders berührt sei. Der Taxifahrer Hoffmann nutzt den Halt für eine Rauchpause. Ein bisschen scheint er sich auch Sorgen zu machen um seinen Wagen, denn die Fahrt zum östlichsten Punkt Deutschlands gleicht einer Safari.

Am Ende der Reise stehen die AfD-Politiker Roberto Kuhnert und Heiko Titze an der Dorfstrasse in Zodel. Kuhnert ist selbständiger Baudienstleister und führt die AfD-Regionalgruppe Weisswasser, zu der auch Neisseaue gehört. Titze ist Polizeibeamter im Ruhestand und kommt aus Hähnichen, ein paar Kilometer weiter nördlich von hier. Männer wie Kuhnert und Titze ziehen nun für die AfD in die deutschen Parlamente ein, beide wurden vor einer Woche in den Görlitzer Kreistag gewählt. Das Gespräch findet in der Landbäckerei in Zodel statt, aber ganz wohl ist es den beiden Herren dabei nicht. Kuhnert redet betont leise, doch es nützt nichts. «Da wird es mir ganz übel, wenn ich das höre!», fährt ihn eine Kundin nach wenigen Minuten an. Kuhnert hat gerade berichtet, wie sehr die CDU in Sachsen versagt habe. Wenig später mischt sich eine weitere Frau ein: «Ministerpräsident Kretschmer hat viel bewirkt in der Region!»
54 Prozent wählen in Neisseaue nicht die AfD, daran haben die beiden Damen noch einmal erinnert. Kuhnert diskutiert mit ihnen, bis der Bäcker einschreitet: «Hier muss bedient werden!» Er hätte auch sagen können: «Hier darf nicht politisiert werden!» Der Bäcker fürchtet offenbar um sein Geschäft. In einem Dorf mit 500 Einwohnern kann er es sich nicht leisten, dass AfD-Politiker im Laden die CDU-Kundschaft vertreiben. Solche Szenen wie eben seien eine Ausnahme, sagt Kuhnert später. «Aber manche verteidigen die CDU heute so, wie früher Unverbesserliche die SED verteidigt haben, als es mit der DDR zu Ende ging.» Es sei Zeit für eine «neue Wende», sagt Kuhnert.

«Die Region fühlt sich abgehängt»
Titze ist ein schweigsamer Mann, meistens hat er die Arme verschränkt und die Mundecken leicht nach unten gezogen. Eigentlich wäre er noch immer gern Polizist, wie er sagt. Aber er habe einen Dienstunfall gehabt und danach sieben Operationen. Manchmal setzt er an und will etwas sagen, aber Kuhnert ist schneller. Der AfD-Mann aus Weisswasser gibt gern den Welterklärer. Vor allem aber ist er begeistert von den jüngsten Wahlerfolgen. «Uns wählt der komplette Querschnitt der Gesellschaft», sagt er. Wie zum Beweis fügt Titze hinzu, «mein Hausarzt hat mich auch gewählt». Kuhnert: «Es gibt keine Alternative zur Alternative!» Aber warum wählen gerade in Neisseaue so viele Leute die AfD? «Die Region fühlt sich abgehängt», sagt Kuhnert. «Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist so. Die Industrie siedelt sich mittlerweile in Polen an.»
Das eigene Unglück scheint sich im Erfolg der Polen noch zu vergrössern. Titze sagt: «Die Wirtschaft fehlt, die Jugend zieht weg. Viele Handwerker wollen junge Leute gar nicht mehr ausbilden, weil diese ohnehin in den Westen auswandern.» Für Kuhnert ist das Konzentrat aller Probleme die geringe Kaufkraft. Titze kann das nur bestätigen: «Die Leute können sich ja ein Bier im Gasthaus kaum noch leisten.» Der pure Patriotismus ende beim Portemonnaie, erklärt Kuhnert. Für den Friseur, Zigaretten und zum Tanken fahren viele Deutsche, die im Grenzgebiet leben, nach Polen.

«Man will keine Zustände wie in Berlin»
Eine tragende Rolle für den Erfolg der AfD spiele auch die Flüchtlingskrise, sagt Kuhnert. «Man will hier keine Zustände wie in Berlin.» Aber eigentlich geht es nicht einmal um Berlin, es geht schon um Görlitz und Zwickau. So peripher die Menschen auch leben, viele haben Angst, dass sie ihre Heimat irgendwann nicht mehr erkennen könnten. Titze erzählt, wie er kürzlich durch die Stadt spaziert sei, in der er geboren wurde. In der Einkaufsstrasse von Zwickau sehe es heute aus wie auf einem türkischen Basar. Titze wirkt weniger empört als enttäuscht.
Der Bäcker hört den Neopolitikern mit grimmiger Miene zu. Aber nur wenn keine Kunden im Laden sind. Irgendwann fragt er die AfD-Männer: «Denken Sie tatsächlich, dass die Presse Ihnen hilft?» Er rät ihnen, besser zu schweigen, denn Journalisten würden nur Unsinn verbreiten. «Jetzt haben wir dieselbe Situation wie am 17. Juni 1953», sagt er. «Journalisten kommen zu uns, um Sensationsberichte zu schreiben. Vorher hat sich für den Osten niemand interessiert!» Kuhnert beschwichtigt den Bäcker und macht seine heiser-feine Stimme noch etwas feiner. Der Vergleich der jetzigen politischen Situation mit dem Volksaufstand von 1953 in Berlin scheint niemanden zu wundern. Es sind die Relationen, in denen man hier denkt. Der Kampf gegen die SED wird bald mit dem Kampf gegen die CDU verglichen, der Volksaufstand von 1953 mit der Europawahl von 2019, die politischen Umbrüche der heutigen Zeit mit der Wende von 1989.

ARTE -Medientipps

Hans Högl

MEDIENTIPPS AUS ARTE-Programm

Yangtse-Unterwegs in China. Reise entlang des Flusses.Mit Shanghai.Je: 17.10 Uhr Mo 7.Okt.,Die 8.Okt.,Mittw. 9.Okt./Do u. Fr.

André Malraux. Schriftsteller,Kulturminister. MI 9.Okt. 22:05 Uhr.

Borgen-Gefährliche Seilschaften. Dänischer Politikfilm (preisgekrönt!) Do 10.Okt. 23.15 Uhr

Winter des Schreckens. Die ersten Siedler in den USA. Jamestown im Jahr 1607. So 13.Okt. 20:15 Uhr Geschichtsdoku

Erich Mielke-Meister der Angst. Minister der Staatssicherheit in der DDR
Die 15.Okt. 20.15 Uhr. In der Mediathek bis 21.10

Das Salz der Erde.Zu Ehren des großen brasilianischen Fotografen Sebastiao Delgado
Mittw. 16.Okt. 00:00. in Mediathek bis 22.10.

Kuba- Flüchten oder Standhalten? Gesellschaftsdoku. Do 17.Okt 17: 40 – 18:35