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„Wenn sie es denn wollen…“

Was hat Alexander Solschenizyn, ein Kritiker der Sowjetunion, aber auch ein großrussisch Denkender, über den Freiheitswillen der Ukrainer gedacht. Er hat vorsichtig erwogen, dass die Ukrainer sich auch von Mütterchen Russland lösen dürfen, wenn sie es denn wollen.

Hans Högl 

Solschenizyn verpasste den Sowjets im „Archipel Gulag“ tödliche Schlag-Zeilen, aber auch im Westen, wo er Jahrzehnte lebte, sah er neben Positiva eine Menge Kritisches. Für Nachzügler und Nachbeter der Wohltaten der Sowjetunion Stalins ist Solschenizyn ein blutig-rotes Tuch. Man rühre nicht daran! Sein Name lässt kognitive Dissonanzen ungeahnter Schärfe explodieren, so als hätte nie die fundamentale Abrechnung im „Livre noir du communisme“ 1997 in Paris geschrieben werden dürfen – auf 987 Seiten – eine der Erklärungen dafür, warum die früher so dominante Linke in Frankreich ihre Revolution nicht mehr mit der russischen gleichsetzt. Lange haben Generationen von französischen Intellektuellen darum gerungen. 

Doch nun zur Schrift „Russlands Weg aus der Krise“, verfasst von Solschenizyn schon 1990 – zu Beginn der Perestroika. Er stellt die konstante Frage, was denn nun Russland ist. Er sieht es in Gemeinschaft mit Weißrussland und der Ukraine. Das russische Volk nahm seinen Anfang in Kiew. Uns – mit den Kleinrussen (Ukrainern) und Weißrussen regierten dieselben Fürsten. Doch für ihn ist 1990 „unumgänglich“, dass sich die drei baltischen Republiken, drei transkaukasische und mittelasiatische Republiken abspalten werden. Doch Russland verbleiben dann immer noch hundert nichtrussische Völker. Die Trennung von zwölf Republiken würde Russland frei machen für eine „kostbare innere Entwicklung“. 

Dann schreibt der Autor: „Ich bin fast zur Hälfte Ukrainer“ und wuchs mit dem Klang der ukrainischen Sprache auf. „Den Mythos des Kommunismus haben wir Russen wie Ukrainer in den Folterkammern der Tscheka seit 1917 am eigenen Leib gemeinsam verspürt. Dieser selbe Mythos stieß die Ukraine in den gnadenlosen Hunger der Jahre 1932 und 1933. Wir haben gemeinsam die mit Knuten und Genickschüssen erzwungene Kollektivierung der Landwirtshaft durchlitten“. Doch eine grausame Teilung zwischen Russen und Ukrainern muss nicht sein. Wir sind Brüder. Diese Verbindung ist „unteilbar, aber kein Gemisch“. Und es darf keine gewaltsame Russifizierung und keine gewaltsame Ukrainisierung geben, und es braucht Schulen in beiden Sprachen. Und dann kommen schwerwiegende Sätze, die kaum rezipiert werden: 

„Natürlich, wenn das ukrainische Volk sich tatsächlich abzutrennen wünscht, sollte niemand wagen, es mit Gewalt daran zu hindern“ (S. 16). Und er schreibt: „Jedes, auch das kleinste Volk, ist eine unwiederholbare Facette des göttlichen Plans.“ Und er fügt an: Der Philosoph Wladimir Solowjow legt das christliche Gebot so aus: „Liebe alle anderen Völker so wie dein eigenes“. Eine prägnante Formulierung und Lösungsformel zu der strittigen nationalen Frage.

Zurück zum „Archipel“, denn dieser berührt das historische Gedächtnis der Ukraine – auch als Getreidekammer. Eine kleine Szene, die Solschenizyn im „Archipel Gulag beschreibt, ist höchst irritierend. „Unter den Sowjets mussten die Bauern die meisten Tage für Kolchosen arbeiten, hatten ein kleines Feld zur Selbstversorgung. Eine Szene: Der Bezirkssekretär kommt aufs Feld, die Bauern beim Pflügen anzutreiben, da fragt eine alter Muschik, ob der Sekretär nicht wisse, dass sie in den sieben Jahren Kolchos für ihr Tagewerk kein Gramm Getreide – nur Stroh und auch davon zu wenig bekommen hatten. Wegen dieser Frage bekommt der Alte „ASA“- dies ist antisowjetische Agitation -10 Jahre Gefängnis“. 

Nun wie ergeht es einem Muschiks mit sechs Kindern: Er schont sich nicht bei der Kolchosarbeit, hoffend, dass es was zu holen gäbe. Und wirklich – er bekommt einen Orden. Festliche Versammlung, feierliche Überreichung, viele Reden. Da läuft dem Muschik vor lauter Rührung das Herz über und sagt: „Ach, hätte ich doch statt eines Ordens einen Sack Mehl! Geht das nicht?“ Wölfisches Gelächter schlägt ihm entgegen, und es wandert der neue Ordensträger samt seinen sechs Mäulern in die Verbannung (Archipel Gulag -1974 Bern, S. 78 f.). In der Covid -19 Pandemie fiel manchmal angesichts unserer auch fehlerhaften Verwaltung das Wort „Diktatur“. Welch` lässiges Gerede! 

Der Begriff „Schuld“ war in der proletarischen Revolution abgeschafft und zu Beginn der dreißiger Jahre als „rechter“ Opportunismus gesehen  worden. – Der Schriftsteller J.I. Samjatin (1884-1937) übte mit seinem Roman „Wir“, eine Zukunftsvision des totalitären Staates. Einfluss auf Orwell und Huxley aus. – Schon im russischen Mittelalter wurden widerspenstige Untertanen auf die Solowezi-Inseln im Weißen Meer verbannt. Nach der Oktoberrevolution entstand hier das erste Zwangsarbeitslager.
Solschenizyns Material waren Eigenerfahrung von elf Jahren im Gulag, und er nützte Briefe von 227 Personen. Da ist man doch perplex auf Wikipedia Fotos von Begegnungen Putins mit Solschenizyn – vor seinem Tod (am 3. August 2008) zu finden.