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Wie Politik und Medien unsere Werte verraten

„Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten“ ist der Titel eines neuen Buches von Jürgen Todenhöfer. Eine Buchempfehlung.

Udo Bachmair

Der Kern des Buches umfasst das Thema Krieg und Frieden und die Rolle des Westens. Dieser müsse eine vermittelnde Rolle spielen. Viel mehr als heute. So sollten wir die westliche Partnerschaft durch eine strategische Partnerschaft mit Russland ergänzen, meint der Autor. Im Sinne eines dauerhaften Friedens in Europa.
Es geht in der bemerkenswerten Neuerscheinung zudem um die perfekte propagandistische Fähigkeit des Westens, Gewalt und Krieg gegen andere Völker in „edle Worte“ verpackt zu haben, wie etwa Freiheit, Humanität, Christianisierung, etc..

Jürgen Todenhöfers jüngstes Werk zeichnet sich durch eine schnörkellose Darstellung aus: „Immer wenn man tötete, sagte man: ‚Das ist eine humanitäre Aktion‘“. Wenn wir von „humanitären Kriegen“ sprechen, wäre die laut Todenhöfer korrekte Übersetzung: „Humanes Totschlagen“.

Albrecht Müller hat für die „NachDenkSeiten“ (www.nachdenkseiten.de) ein Gespräch mit Jürgen Todenhöfer über dessen Buch geführt. Hier ein kurzer Ausschnitt :

Erläutern Sie bitte die Begründung für den harten Titel Ihres Buches:

Jürgen Todenhöfer:
Das ist der Versuch, die Geschichte des Aufstiegs der Europäer und der Amerikaner in den letzten 500 Jahren ehrlich zu beschreiben. Und ich glaube, dass diese Geschichte der europäisch-amerikanischen Zivilisation umgeschrieben werden muss: wir, die Europäer und die Amerikaner haben die Welt ja nicht durch, wie wir immer sagen, durch unsere Werte und durch besondere Genialität der sogenannten weißen Rasse erobert, sondern durch eine grenzenlose Brutalität, die wir aber, und es gab auch andere brutale Weltmächte in der Geschichte der Menschheit, die wir aber, und das unterscheidet uns von anderen Großmächten, systematisch in edle Worte und edle Werte verpackt haben. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Christianisierung, Zivilisierung und so weiter.

Also, wir waren schon immer große Propagandisten?

Jürgen Todenhöfer:
Ja, ich glaube, dass der Mensch dazu neigt, und ich schließe mich davon nicht aus, das, was er tut, nicht im schlechtesten Licht, sondern in einem möglichst positiven Licht zu zeigen. Und auch andere Großmächte haben das versucht. Die Römer haben angeblich immer nur gerechte Kriege geführt. Aber es gibt in der Geschichte der Menschheit keine einzige Großmacht, die die Chuzpe gehabt hat, das Töten, das massenhafte Töten von Menschen als humanitäre Handlung darzustellen.

Das ist offensichtlich eine gewaltige „Leistung“.

Jürgen Todenhöfer

Das ist eine riesige Leistung, vor allem, wenn man an das Unrecht denkt in diesen 500 Jahren. Ich starte mal den Aufstieg der westlichen, der europäisch-amerikanischen Zivilisation mit Kolumbus, weil das auch dasselbe Jahr ist, als die islamische Hochkultur, die 800 Jahre dauerte, in Granada unterging. Wir haben seitdem weit über 100 Millionen massakriert, ganze Völker ausgerottet.

Protestantismus und Kulturkrise

Eduard Spranger in „Lebensformen“ (1921). Kurz-Essay

“ Denn das Grundmoment des Protestantismus, wenn man seine 400-jährige Auswirkung verfolgt, ist die Freilassung des individuellen Wertsystems. In diesem sinngemäßen Fortschritt liegt zugleich  d i e   Ursache der letzten großen Kulturkrisen, mehr als im sogenannten Kapitalismus. Denn es ist auf diese Individualisierung keine wahrhaft umspannende Synthese mehr gefolgt. Alle großen Lebensprobleme müssen zuerst auf religiösem Boden gelöst werden. Die Zukunftsaufgabe des Protestantismus ist jene der Synthese.“ (Text: Hans  Högl)

Zeitgeist: Sehnsucht nach neuem Autoritarismus

Manfred Prisching (Univ. Prof. in Graz).

Univ. Prof. Manfred Prisching hielt gestern, am 17. Oktober, in Wien einen weitausholenden Vortrag über den Zeitgeist und die Entzauberung der Welt (Säkularisierung) und darüber, welche Folgen aus einer vielfachen Überforderung erwachsen, was Menschen geneigt macht – zu neuen Formen des Autoritarismus. Resumé von Prof. Dr. Hans Högl.

Der moderne Mensch hat ein Integrationsproblem im Hinblick auf die Sinnstiftungs-Potenziale: Die Religion w a r im Mittelalter ein Baldachin, dann kam die Vernunftgeschichte (Aufklärung),  und Religion wurde zu einem Residuum und abgelöst vom Glauben an den Staat, an das Volk, an den Nationalismus, an die Wissenschaft,   und Ersatzreligionen mit Heilsversprechen entstanden so der Kommunismus und Faschismus. Eine Minderheit von Intellektuellen wie Nietzsche und Camus suchte eine Lösung im heroischen Nihilismus. Ferner treten kleine Ideologien wie Feminismus und Veganismus auf….

Was soll angesichts dessen heute das Individuum tun? Jeder ist auf sich angewiesen, jeder soll sein Leben anders entwerfen als in seiner Herkunftsfamilie, jeder muss alleine seinen Weg finden. Das wird Individualisierung genannt. Wir suchen danach, als Individuum echt (authentisch) zu sein und basteln unsere Identität aus verschiedenen Komponenten. Das Individuum pflegt die Selbstzentrierung, einen Narzissmus, hat Wohlstandserwartungen, erwartet Rechte. Pflichten treten in den Hintergrund.

Die Folge: Der moderne Mensch ist vielfach überfordert. Laut Prof. Manfred Prisching (Univ. Graz) hat diese Überforderung drei Komponenten: den Wertebaldachin, den Tribalismus und die Komplexität.

Wegen der Komplexität der Lebenswelt fragen sich die Menschen, was ist los? Sie erfahren Stress, Überforderung. Und da wird erwartet, dass ein Führer den gordischen Knoten mit einem Schlag löse. Das gehe nicht.

Die drängende Frage: Wo bin ich zu Hause berührt die Komponente Tribalismus, also eine Art modernes Stammesdenken. Es ist die Sehnsucht nach Beheimatung, Gemeinschaft, Nation. Der Wunsch entsteht auch darum, weil sich die Nationen auf Europa hin auflösen und die Globalisierung Angst macht.

Die dritte Komponente ist der „Wertebaldachin“. Was gilt überhaupt von den Werten? Es löst sich alles auf in Pluralismus. Das formulierten die Postmodernisten. Deren Denker drückten aus: Die großen Erzählungen gelten nicht mehr. „Endlich gilt nichts nichts mehr. Das Chaos ist großartig.“

Dieses verwobene Zeitgefühl erweckt die Sehnsucht nach Autoritarismus,  und lässt Menschen hören auf Versprechungen eines neues Autoritarismus.

 

Sicherheit statt Freiheit

Unsere Werte durch maßlose Polizei- und Militärmaßnahmen verteidigen ?

Udo Bachmair

Die Kriegsrhetorik in Politik und Boulevardmedien nach den Attentaten von Paris wird immer ungezügelter. Sie geht Hand in Hand mit weiteren intensiven Luftschlägen in Syrien und einer seit 9/11 beispiellosen Ausweitung militärisch-polizeilicher Maßnahmen auch innerhalb der EU. Kriegsrhetorik gepaart mit sukzessiver Einschränkung von Bürgerrechten wird im öffentlichen Diskurs nicht selten mit der „Verteidigung unserer Werte“legitimiert.

Vor diesem Hintergrund übt der Terrorexperte Wolfgang Zellner vom Institut für Friedensforschung an der Universität Hamburg scharfe Kritik an der (insbesondere von politischen Akteuren in Frankreich genutzten) Kriegsrhetorik.

„Was soll die Kriegsrhetorik, wenn ein guter Teil der Probleme hausgemacht ist“, fragt Zellner. Schließlich seien die Terroristen, die die Anschläge in Paris verübt hätten, weitgehend Bürger Frankreichs und Belgiens gewesen, also „von innerhalb der EU“ gekommen: „Es ist nicht klar, was man da jetzt mit kriegerischen Mitteln erreichen will.“

Die Kriegsrhetorik werde nur „die Wut bei jenen Menschen weiter anfachen“, welche „die westliche Kultur hassen“: „Es ist ein Eskalationsschritt, auf den die Gegenseite in der Regel mit weiterer Eskalation antwortet.“

Wohin kann ungebremste Kriegsrhetorik letztlich führen ? Die Geschichte gibt darauf bittere Antworten… Im Folgenden ein in der Wiener Zeitung erstmals veröffentlichter Kommentar der renommierten Politikwissenschafterin und Direktorin des „European Democracy Lab“ Berlin, Ulrike Guerot :

Wider die Kriegsrhetorik

Wenn wir nicht begreifen, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert hat, haben wir den Krieg gegen den IS schon verloren.

So schnell geht das also. Vergangenes Jahr haben wir noch die Erinnerung an 1914 zelebriert; dann waren wir noch damit beschäftigt, das „Friedensprojekt Europa“, das uns plötzlich nicht mehr schmeckt, zu beerdigen. Jetzt ist also „Krieg“.

Schon werden Flugzeugträger versetzt, ein Hauch von Mobilmachung liegt in der Luft. Um es vorweg zu sagen: Die Anschläge auf Paris waren heimtückisch, martialisch und barbarisch und sind durch nichts zu entschuldigen. Indes, nur einen Tag vor Paris, töteten zwei Selbstmordattentäter in Beirut mehr als 40 Menschen – wo war da der Aufschrei in den westlichen Medien?

Krieg ist ein völkerrechtlicher Begriff. Man tritt aus der zivilen Normalität heraus. Werden wir formal den Krieg erklären und, wenn ja, wem? Dem IS, der Staat sein will, aber keiner ist? Und was ist unser Kriegsziel? Die Vernichtung des IS und die vollständige Befreiung des syrischen Volkes? Die unangenehme Wahrheit ist: Wir wollen nicht unsere Werte, sondern unsere Sicherheit, unser Leben und unseren Wohlstand verteidigen. Denn wenn es um die Verteidigung unserer Werte ginge, hätten wir diese schon lange verteidigen sollen.

Mit dem Gerede von der „Verteidigung unserer Werte“ wird erstens nur der Steigbügel gehalten für eine maßlose Aufrüstung von Polizei-und Sicherheitsmaßnahmen in ganz Europa. Das aber führt in die Sackgasse, weil der IS damit genau das bekommt, was er will: dass wir uns selbst unserer Freiheit berauben und demnächst unter Video-Kameras ins Restaurant gehen. Und zweitens für eine maßlose militärische Aufrüstung, für die jetzt im Handumdrehen mehr Geld mobilisiert werden dürfte, als wir für die Flüchtlinge je bereitwillig ausgegeben hätten. Sicherheit statt Freiheit weiterlesen